Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein endloser Albtraum (German Edition)

Ein endloser Albtraum (German Edition)

Titel: Ein endloser Albtraum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
Vom Netzwerk:
schon. Ich habe das Gefühl, dass ich ihn mir auf Armeslänge vom Leib halten sollte, weil er sonst die Leitung übernimmt. Es ist, als würde man stromaufwärts einen Damm bauen, damit das Dorf nicht weggerissen wird. Ich bin das Dorf und ich baue einen Damm, indem ich ihm gegenüber kühl und gleichgültig bin.«
    »Das könnte ihn noch leidenschaftlicher machen.«
    »Glaubst du? Daran habe ich nie gedacht. Ach, es ist so kompliziert.« Sie gähnte. »Was würdest du an meiner Stelle tun?«
    Das war eine schwierige Frage, weil ich mich ohnehin halb in ihrer Situation befand. Meine Gefühle für Homer hinderten mich daran, den entscheidenden Schritt mit Lee zu wagen. Es wäre mein übliches Glück gewesen, als Schiffbrüchige mit zwei Jungen auf einer einsamen Insel zu landen und beide zu mögen. Aber als Fi sexy sagte, war mir klar geworden, dass es mit Homer ziemlich körperlich war. Ich wollte nicht stundenlang mit ihm über das Leben reden; ich wollte stundenlang mit ihm tierische Geräusche von mir geben – wie Seufzen und Stöhnen und »Drück fester« oder »Fass mich dort noch mal an«. Mit Lee war es anders. Seine Ideen, die Art, wie er über vieles dachte, faszinierten mich. Ich fühlte, dass ich das Leben anders sehen würde, je mehr ich mit Lee redete. Es war, als könne ich von ihm lernen. Ich wusste nicht viel über sein Leben, aber wenn ich sein Gesicht und seine Augen betrachtete, war es, als blicke ich in den Atlantischen Ozean. Ich wollte wissen, was ich dort finden konnte, welche interessanten Geheimnisse er kannte.
    Deshalb beantwortete ich Fis Frage sehr kurz. »Halt ihn nicht ewig hin. Homer liebt Aufregung. Er will vorankommen. Er ist nicht gerade der geduldigste Mensch der Welt.«
    »Du meinst also, ich soll es versuchen?«, fragte sie schläfrig.
    »›Besser zu lieben und den Geliebten zu verlieren, als nie geliebt zu haben.‹ Wenn du dich darauf einlässt und es funktioniert nicht – was hast du dann verloren? Aber wenn er das Interesse an dir verliert und du nie etwas mit ihm gehabt hast, wirst du den Rest deines Lebens darüber nachdenken, wie es vielleicht gewesen wäre.«
    Fi schlief ein, aber ich lag wach, lauschte den Geräuschen der Nacht, der Brise in den heißen Bäumen, dem Heulen der Wildhunde in der Ferne, dem gelegentlichen Krächzen eines Vogels. Ich fragte mich, was ich fühlen würde, wenn Fi mit Homer zusammenblieb. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass ich Homer plötzlich so sehr mochte. Er war so lange ein Nachbar, ein Bruder gewesen. Ich versuchte daran zurückzudenken, wie er vor einem Monat, einem Jahr, fünf Jahren gewesen war, als er noch ein Kind war. Ich wollte herausbekommen, wann er so anziehend geworden war oder warum ich es nicht früher bemerkt hatte, aber damals hatte ich nichts für ihn empfunden. Es war, als hätte er sich verwandelt. Über Nacht war er sexy und interessant geworden.
    Wieder heulte ein Hund und ich begann über den Einsiedler nachzudenken. Vielleicht war er es, der heulte, weil er zu seinem entweihten Haus zurückgekommen war und nun die Menschen suchte, die in seinen geheimen Zufluchtsort eingedrungen waren. Ich schob mich näher an Fi heran, weil alles so gespenstisch wirkte. Es war seltsam, dass ich die kleine Hütte gefunden hatte, die so geschickt versteckt worden war. Er musste die Menschen wirklich gehasst haben, wenn er sich solche Mühe gegeben hatte. Ich hatte halb erwartet, dass der Ort sich anfühlte, als wäre er voller böser, satanischer Mächte, als hätte er sich dort jahrelang verkrochen, um schwarze Messen abzuhalten. Was für ein Mensch konnte tun, was er getan hatte? Wie hatte er weiterleben können? Doch die Hütte hatte sich nicht böse angefühlt. Sie hatte eine eigene Atmosphäre, die aber schwer zu beschreiben war. Es war ein trauriger, bedrückender Ort, aber kein böser.
    Als mich der Schlaf übermannte, begann ich mit meinem abendlichen Ritual, das ich jetzt immer einhielt, egal, wie müde ich war. Es war eine Art Film, den ich jeden Abend im Geist abspulte. Im Film sah ich zu, wie meine Eltern ihrem normalen Leben nachgingen. Ich vergewisserte mich, dass ich ihre Gesichter so oft wie möglich sah, und stellte sie mir in allen möglichen alltäglichen Situationen vor: Dad, wie er den Schafen Heuballen hinwarf, am Lenkrad wartete, während ich ein Gatter öffnete, fluchte, während er die Treibriemen am Traktor straffer spannte, bei Sportfesten seine Moleskin-Hose trug. Mum in der Küche – sie war ein

Weitere Kostenlose Bücher