Ein Engel an Güte (German Edition)
sich wankend erhob, dennoch aber voll herzlicher Fürsorge dem Gemahl den Arm bot.
« O nein, nein!», rief dieser, gerührt von so viel Güte.«Heute wirst du Wunder erleben...! Ich könnte seiltanzen ...! Ja, ich will dir sagen, diese unverhoffte Anwandlung von Kraft lässt mich vermuten, dass es dem Ende zugeht und dass es mir ergeht wie der Kerze, eh sie erlischt.»
« Oh, wie könnt Ihr so reden!», sagte Morosina im Ton himmlischen Erbarmens.«Ich glaube und hoffe, ich bete zu Gott, dass Er Euch noch recht lang im Kreis Eurer Lieben und zum Heil unseres Vaterlandes erhalten möge.»
« Dann ist mein Wohlbefinden vielleicht Wirkung deiner Gebete», meinte Formiani.
Chirichillo, der ihnen folgte, bekreuzigte sich, denn der Tonfall des Inquisitors schien ihm nicht ausreichend von echtem Glauben durchdrungen. Morosina hingegen sah ihren Gemahl liebevoll an und rückte, dem Kammerdiener zuvorkommend, den Stuhl für ihn zurecht, damit er sich setzen könne.
« Und der Podestà ...? Und Don Gasparo?», fragte der Inquisitor.«Los, ruf sie, Chirichillo, sonst kommen sie womöglich erst zum Abendessen, der eine, weil er schläft, der andere, weil er deklamiert.»
Doch diesmal bestätigte sich Formianis scharfsinnige Vermutung über die beiden Freunde nicht; seit einer Stunde saßen sie unten in einer Weinlaube und genehmigten sich einen Vorgeschmack auf das Mittagsmahl.
« Exzellenz Alvise? Exzellenz», hatte der Maestro gerufen, nachdem er die vierzigste Oktave des neunten Gesangs rezitiert hatte.
« Was...? Was gibt’s ...?», hatte der Podestà geantwortet, die Ellbogen in der Luft und sich mit den Fäusten die Augen reibend.«Teufel, wie mich der Hunger plagt!»
« Das ist eine schreckliche Stunde für Sie, Exzellenz, da Sie trotz Lesung meines Poems so leicht der Schlaf übermannt.»
« Sapperlot, das mag wohl stimmen...! Aber findet Ihr nicht, mein lieber Don Gasparino, dass das Essen sehr lange auf sich warten lässt?»
« Ja, Exzellenz, es lässt lange auf sich warten, es ist bald vier, und der Hausherr ist scheint’s noch immer nicht heimgekehrt; aber heute gab es im Senat eine große Debatte um die Neutralität der Republik, und ...»
« Genug, genug, ich habe verstanden...! Aber sollen denn wegen der Neutralität wir hier verschmachten...? Könnten wir uns nicht unterdessen in der Weinlaube ein Gläschen genehmigen?»
« Oh, fürwahr! Auch meine Kehle ist etwas trocken geworden!»
« Gehen wir also!»
« Gehen wir.»
Dieser Dialog hatte eine Stunde zuvor stattgefunden und mag erklären, weshalb der Podestà und Don Gasparo dem Essen wenig Ehre erwiesen und ihre Münder mehr zum Gähnen als zum Essen auftaten. Chirichillo war auch nicht besser aufgelegt, und Morosina war schon gar nicht zum Lachen zumute, weshalb Formiani ganz allein die Unterhaltung bestritt, mit jenen Scherzen, die ihm gewöhnlich immer leicht und lebhaft von den Lippen kamen, doch an diesem Tag hatten auch sie etwas Gequältes. So verging dieser Tag, stumm und unter verhaltenen Seufzern, verstohlenen Blicken und geflüsterten Scherzen.
Am Abend blieb der Inquisitor sehr lange wach, führte weder mit Bernardo die üblichen Gespräche, noch nahm er die übliche Dosis Opium in Gestalt von Don Gasparos Poem zu sich, ja, er schickte sogar Martino fort, indem er sagte, er wolle sich allein auskleiden. Noch um zwei saß er in seinem Lehnstuhl, und ihm standen die Vorschläge zu einem Bündnisabkommen mit der Königin von Ungarn vor Augen, die am selben Morgen vom britischen Botschafter, dem Grafen von Holderness 115 , unterbreitet worden waren.
« Wir wollen doch sehen, ob dieses Schreckgespenst sie zu einer Entscheidung bewegt!», murmelte er.«Nach langem Hin und Her habe ich diese Herren Engländer schließlich doch dazu gebracht, dass sie uns Druck machen!»Er grübelte, seufzte, murmelte lang vor sich hin; dann machte er sich ein paar Notizen auf ein loses Blatt, zog sich in seinen Alkoven zurück, legte sich ins Bett und schlief bei Morgengrauen ein.
Am nächsten Morgen war er schon um acht Uhr auf den Beinen, und um zehn erhob er sich im Senat, um die Bedingungen zu verlesen, die Maria Theresia für einen Angriffs- und Verteidigungspakt geltend machte. Man stelle sich vor, wie sich die Gesichter der Senatoren verfärbten, als Formiani diesen Vorschlag in festem und bestimmtem Ton vortrug! In die Staatsschatulle greifen, neue Truppen ausheben, Feuer an die Lunten der Kanonen legen, das erschien diesen edlen Catonen 116
Weitere Kostenlose Bücher