Ein Engel an Güte (German Edition)
Tagen schon im Brescianischen auf, und mit seiner Rückkehr sei so bald wohl auch nicht zu rechnen. Das war in jenen Tagen, da der Podestà in Venedig zu Besuch bei Morosina war und nicht wenig erschrak, dem Carmini zu begegnen, der ihm für diese wenn auch widerwillig unterzeichnete Vorladung nicht eben dankbar sein würde. Als er, aus Venedig zurück, seiner Frau von dieser Neuigkeit berichtete, schalt sie ihn zunächst heftig, dass er es unterlassen habe, dies dem Rat der Zehn oder dem Geheimtribunal anzuzeigen; sodann richtete sie ein langes Mahnschreiben an die Inquisitoren, sie möchten sich doch ja einen so großen Verbrecher nicht entwischen lassen; doch während sie noch darauf vertraute, alsbald die Nachricht von der Enthauptung des Grafen zu erhalten, und Tramontino mit dieser Aussicht tröstete, traf plötzlich in Begleitung von vier Bewaffneten ein Kurier der Serenissima ein mit der Anordnung, dass ihm der Angeklagte Tramontino und die Prozessakten zu übergeben seien. Da galt es, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Tramontino wanderte in die Verliese der Inquisition, und man hörte nichts mehr von ihm; Signora Cecilia bekam ein Gallenleiden; Chirichillo befand, die erlauchten Herren hätten so gehandelt, weil in diesem Prozess trotz seiner Einwände gewisse Verfahrensregeln verletzt worden seien; der Podestà tröstete sich, dass er seine Unterschrift nun nicht mehr auf gewissen brisanten Dokumenten zu sehen brauchte; der Graf seinerseits tauchte zwei Wochen später wieder in Asolo auf, diesmal jedoch halbwegs von seinem üblichen Hochmut kuriert.
Unterdessen hatten sich im Hause Valiner andere, zwar nicht so schwerwiegende, dafür aber umso mysteriösere Dinge ereignet. Während der Podestà noch vorhatte, Chirichillo nach Venedig zu schicken, um Morosina abzuholen, wie mit ihr selbst und seiner Frau vereinbart, änderte letztere urplötzlich ihre Meinung. Woher dieser Meinungsumschwung rührte, war nicht zu ergründen; er schien allerdings durch ein sehr kurzes Schreiben verursacht, das um diese Zeit aus Venedig eintraf und über das sie trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Kürze lang nachgegrübelt hatte. Tatsache ist, dass sie in allen Tonlagen – schreiend, singend, trällernd – beteuerte, sie werde der Reise des Mädchens nach Asolo nicht zustimmen, dies sei weder der Ort, um ihre Erziehung zu vervollkommnen, noch sei hier eine passende Partie für sie zu finden; sie werde an einen Verwandten oder Freund in Venedig schreiben, wie zum Beispiel Formiani, damit Morosina dort passend untergebracht werde. Chirichillo weinte heimlich über diese harte Entscheidung, der Podestà weinte vor den Augen seiner Frau, doch sie war nicht umzustimmen; woraufhin Valiner den Appetit verlor, und zwar gar nicht so sehr wegen Morosinas Fernbleiben, daran hatte er sich in den sechs Jahren gewöhnt, ein Monat mehr oder weniger würde da auch nicht mehr viel ändern, sondern weil er begann, sich wegen seiner übertriebenen Willfährigkeit seiner Frau gegenüber die bittersten Vorwürfe zu machen. Der Untröstlichere von den beiden indes war, auch wenn es nicht den Anschein hatte, der Gerichtsschreiber; das ging so weit, dass er bisweilen versäumte mitzuschreiben, wenn die Signora diktierte, andere Male vergaß, einen Angeklagten zu verhören, den er schon zwei Stunden vor sich sitzen hatte, und dass er die Vorhaltungen, die ihm wegen dieser Vergesslichkeiten gemacht wurden, gar nicht hörte, weil er so befangen war in seinem Schmerz über seine zerschellte Hoffnung.
Eines Tages kam er vom Archiv die Straße herunter, ein von der Edeldame verlangtes Aktenbündel in Händen, da vergaß er vor lauter Kummer seine Arme, sie sanken tiefer und tiefer herab, bis das Bündel zu Boden fiel und er mit leeren Händen beim Amtsgebäude ankam. Erst da wurde er des Verlusts gewahr, schaute zuerst in die Luft, dann auf den Boden, und als er dort nichts sah, kehrte er wieder ins Archiv zurück, überzeugt, es dort vergessen zu haben. Doch als er um die erste Ecke bog, fiel sein Blick just auf das Bündel, das in etwa dreißig Schritt Entfernung mitten auf der Straße lag; das Hündchen des Barbiers beschnüffelte es von allen Seiten und verrichtete dann über diesen Papieren, was Hunde ohnehin viel zu häufig zu verrichten pflegen.«Oh, du Racker!», rief Chirichillo, doch das Unglück war bereits geschehen, und er begnügte sich damit, das Aktenbündel, das so durchweicht und übel riechend geworden war, wie es
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