Ein Engel an Güte (German Edition)
Tyrannei zu mäßigen wusste, war der brave Chirichillo, der nicht nur den Fuß, nein, seinen Kopf hergegeben hätte, ehe er von der Amtsgewalt, die ihm seiner Ansicht nach von der Vorsehung übertragen war, auch nur einen Fingerbreit abtrat. Nun war aber bei Urteilen in Kriminalprozessen außer der des Podestà auch die Unterschrift des Gerichtsschreibers erforderlich, und da kann man sich vorstellen, was für ein Gerangel es gab, wenn die adlige Herrin und der rechtskundige alte Mann sich uneins waren! Sie, voller Standesdünkel und überzeugt, dass ihr Wille Befehl sei; er, eigensinnig in Erfüllung seiner von strengster Gewissenhaftigkeit diktierten Pflicht, um sich nach dem Tod den Glorienschein im Himmel oder wenigstens die Kaiserkrone auf Erden zu verdienen! Nicht selten wären sie fast handgreiflich geworden, ja, manchmal wurden sie es tatsächlich; doch dieses«wurden sie»ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck, und man muss ihn, wenn auch schweren Herzens, korrigieren und schreiben, dass die Edeldame, all ihre Vorsätze zur Mäßigung vergessend, sich zu Tätlichkeiten hinreißen ließ, den armen Chirichillo ohrfeigte, kratzte und ihm auch nach den Augen fuhr; der aber befolgte dann jenen anderen seiner Grundsätze, der da lautete, die Vorgesetzten um jeden Preis zu respektieren, und ließ sich, ohne den Ansinnen der Signora auch nur einen Zollbreit nachzugeben, in jeder Weise von ihr malträtieren. Abgesehen von dem einen oder anderen blauen Auge, das in der sonstigen Leichenblässe des Schreibers nicht weiter auffiel, ging die Sache meist glimpflich ab, und die Edeldame war nach beendeter Schlacht voller Bewunderung für die Standhaftigkeit des Gegners; er war der Einzige, der beherzt genug war, ihr offen die Stirn zu bieten.«Aber ja», sagte sie zuweilen,« du bist wirklich ein braver Kerl, und es tut mir in der Seele leid, dass ich dich so ungerecht behandelt habe.»
Und sie verzieh ihm seine Grillen mit Rücksicht auf die Akkuratesse, womit er ihre Anordnungen befolgte, sobald sie gleicher Auffassung waren.
Kein Wunder, dass einer so energischen Frau die Autorität, die sich ein kleiner Landadeliger wie Graf Carmini dort in der Umgebung und in ihrem eigentlichen Rechtsbezirk anmaßte, unerhört und anstößig erscheinen musste. Der Name war ihr vage erinnerlich als der Signoria wenig genehm, und in ihren eigenen Ohren nahm er gleich am ersten Tag einen üblen Klang an, da sie ihn wohl ein Dutzend Mal mit Ehrerbietung aussprechen hörte. Sobald sie den Grund für diese Popularität erfuhr, war sie eher erstaunt als gekränkt; als sie sichjedoch von diesem Staunen erholt hatte und binnen kürzester Zeit mit Händen zu greifen war, dass der Graf Carmini in Asolo doch tatsächlich größere Macht besaß als die Edeldame Valiner, geriet sie außer sich: Sie schrie, wetterte, drohte. Sie wollte Chirichillo zwingen, Carmini wegen Hochverrats zu belangen; sie schrieb an sämtliche Ämter und staatlichen Stellen in Venedig, an die Inquisitoren, an die Zehn, an den Senat, an die Quarantia criminal, den Großkanzler 79 , an die avogadori , den Patriarchen und den Dogen. Als sie von diesen hochgestellten Persönlichkeiten keine Antwort erhielt, spie sie zum Zeichen ihrer Verachtung auf diese aus und schwor, sie werde sich selbst zu behelfen wissen; bei diesen Worten krempelte sie die Ärmel ihres Kleides hoch, als wolle sie aus dem armen Grafen Hackfleisch machen. Doch diesmal wurde daraus nichts, denn der Graf war in seinem Benehmen viel zu gerissen und zu sehr auf der Hut, als dass er Beweisgründe für einen Prozess geliefert hätte.
Zwei Monate später allerdings, gegen Anfang des Winters, als sie mit den Klatschbasen im Dorf Bekanntschaft geschlossen hatte, kam ihr zu Gehör, dass Carmini von Zeit zu Zeit geheimnisvolle englische, französische und deutsche Persönlichkeiten bei sich empfange; dass er den ganzen vergangenen Herbst hindurch einen gewissen neapolitanischen Grafen zu Gast gehabt habe und dass er eine rege Korrespondenz mit dem Ausland unterhalte; dass er sich durch Vergünstigungen und Protektion die Ergebenheit der Holzfäller in den nahe gelegenen Wäldern gesichert habe; das waren raue, wilde Kerle, aber einmal durch einen Eid gebunden von unverbrüchlicher Treue. Kurz, sie erfuhr mehr, als erforderlich war, um hinter diesem verdächtigen Treiben des Grafen eine Verschwörung gegen die Serenissima zu vermuten. Das war in ihren Augen der Grund, weshalb er aus Brescia hierhergekommen
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