Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
zufrieden waren, wenn ich die Angelegenheit als Witz abtat, von erheiternden Vorfällen auf dem «Landsitz» sprach und die Anstalt mit einem Hotel verglich. Ich beschrieb die Umgebung. «Es ist wie ein ganzes Dorf», sagte ich. «Sie haben ihren eigenen Bauernhof, ihre eigenen Rinder und Schweine, und alle Essensreste wandern in den Schweinetrog. Sie haben auch ihren Gemüsegarten und ihre Blumen. Und das Grundstück ist voller Bäume, und dort, wo der Direktor wohnt, steht ein Magnolienbaum.»
Es war leichter, so darüber zu reden, als wäre ich ein Kind, das beschreibt, was es in den Ferien gesehen und was für Abenteuer es erlebt hat.
Ich erzählte ihnen nicht, dass ich durch den Zaun eines Gebäudes namens
Simla
gespäht hatte, weit oben auf dem Hügel, wo merkwürdige Männer in gestreiften Hemden und Hosen und manche ohne Hosen auf einer umzäunten Wiese, deren Gras ganz abgetreten war, im Kreis gingen; und dass ich auch eine eingezäunte Wiese mit Frauen gesehen hatte, die dunkelblau gestreifte Kleidung trugen; und dass es einen Karren gab, wie eine Rikscha, der jeden Tag an der Abteilung vorbeifuhr, dass er mit Kohlen beladen war und dass zwei vor den Karren gespannte Männer die Kohlen zogen, angetrieben von einem der Wärter; dass ich, neugierig wie immer, in ein Zimmer gelugt hatte, in dem es nach Urin stank und das voller Kinder war, die in Kinderbettchen lagen, merkwürdige Kinder, manche von ihnen Babys, die seltsame Geräusche von sich gaben; ihre Gesichter waren nass von Tränen und Rotz; und ich erzählte auch nicht, dass es für die Tuberkulosepatienteneine eigene Abteilung gab und dass ihr Geschirr in einem Kerosinbehälter auf dem Ofen im Speisezimmer ausgekocht wurde und dass die Krankenschwestern im kleinen Wäschezimmer geraume Zeit damit zubrachten, aus Pappe Kartons für den täglichen Bedarf zu falten, die aussahen wie kleine Kartons für Erdbeeren und den TB-Patienten als Spucknäpfe dienten.
Nach Weihnachten wurde der Vorschlag gemacht, ein Urlaub würde mir vielleicht «guttun», und so fuhren June und ich für zwei Wochen nach Picton, in Mutters Heimatstadt, wo wir, von Sandfliegen geplagt, den Sommer verbrachten, mit dem Vergnügungsschiff in den Marlborough Sounds herumfuhren, Verwandte besuchten und neue Einzelheiten über die Familiengeschichte hörten, während ich, stark unter dem Einfluss des vergangenen Jahres, in dem ich viel Musik gehört hatte, im Kopf meine «Picton-Symphonie in Grün und Blau» komponierte, wie ich sie nannte. Meine Erinnerungen an diesen Urlaub sind vereinzelt und verstreut – wie Samen, so stelle ich mir vor, von denen eine Handvoll von Zugvögeln gefressen wird, die vor Wintererinnerungen wegfliegen, oder von heimischen Vogelarten, die lange Zeit von der Erinnerung zehren; manche überleben nicht, wieder andere wachsen zu Pflanzen heran, die man weder erkennen noch benennen kann. Ich weiß, dass ich die Erinnerung an jene steilen, bedrückenden grünen Hügel mit nach Hause nahm, deren mit Busch bedeckte Hänge sich unentrinnbar nah wie Nachbarn erhoben.
Aufgefordert, den Urlaub zu schildern, erzählten June und ich der Familie, was sie hören wollte, und versuchten so, alle zufriedenzustellen. Das hatten wir nämlich von Kind an gründlich gelernt, mit unserer Mutter als Lehrerin. Und wiederbegann ich mit meinen Vorbereitungen für ein weiteres Jahr in Dunedin.
Ich hatte die Absicht, mir eine Stelle mit «Kost und Logis» als Haushaltshilfe zu suchen und Philosophie II, Logik und Ethik, zu «nehmen», aber keine Prüfungen abzulegen. Man hatte mir versichert, dass ich, obwohl ich mich den Schlussprüfungen nicht unterzogen hatte, aufgrund meiner im Laufe des letzten Jahres erbrachten Leistungen das Studienjahr angerechnet bekommen würde. Vielleicht hatte ich es versäumt, die richtigen Formulare auszufüllen: Jedenfalls musste ich herausfinden, dass ich mit
Ungenügend
beurteilt worden war. Ungenügend!
In der Zwischenzeit gab es zu Hause das Problem, meine Ersparnisse von zwanzig Pfund vom Pflegschaftsamt zurückzubekommen, das sich um meine Belange kümmerte, da ich offiziell geisteskrank war. Wieder einmal beschlossen meine Schwestern und mein Bruder und ich, «uns zusammenzutun», um unsere Rechte zu behaupten, und Isabel verfasste einen ernsten Brief an den Pflegschaftsbeamten, der zurückschrieb, diese Konfiszierung meines «Eigentums» geschehe in meinem eigenen Interesse, da ich offiziell geisteskrank sei; ich könne erst wieder
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