Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
über die jedoch viele voller Spott, Gelächter und Angst redeten. Hier sah ich Menschen mit starrem Blick, wie das Auge des Orkans, umgeben von unsichtbaren Wirbeln und unhörbarem Lärm, der sich seltsam von der Stille abhob. Ich lernte meine Mitpatienten kennen und lieben. Ich war beeindruckt und traurig über ihre – unsere – Fähigkeit, die ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln des Anstaltslebens zu erlernen, zu befolgen und oft sogar zu genießen, über den Stolz auf die tägliche Routine, den Patienten erkennen ließen, die schon seit vielen Jahren in der Anstalt waren. Es war eine persönliche, geographische, ja sogar sprachlicheAbgeschlossenheit, in der diese Gemeinschaft der Geisteskranken lebte, die keine rechtliche oder persönliche äußerliche Identität besaßen – keine eigene Kleidung, keine Handtaschen, Geldbörsen, keinen Besitz außer einem provisorischen Bett zum Schlafen mit einem verschließbaren Spind daneben und einem Zimmer, genannt der
Tagesraum
, wo man sitzen und vor sich hin starren konnte. Viele Patienten, die in anderen Abteilungen in Seacliff eingesperrt waren, hatten keinen Namen, nur einen Beinamen, keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur ein Jetzt in Gefangenschaft, ein ewiges Ist-Land ohne dazugehörigen Horizont, ohne Halt für Fuß und Hand, ja selbst ohne seinen sich ständig verändernden Himmel.
In meinem Buch
Gesichter im Wasser
habe ich ausführlich das Milieu und die Ereignisse in den verschiedenen psychiatrischen Anstalten beschrieben, die ich während der folgenden acht Jahre kennenlernte. Ich habe auch wahrheitsgetreu über die Behandlung, die ich erfuhr, und meine Ansichten darüber geschrieben. Das Fiktive an dem Buch ist die Darstellung der Hauptfigur, die auf meinem Leben beruht, aber größtenteils mit erfundenen Gedanken und Gefühlen ausgestattet wird, um so ein Bild des Leidens zu schaffen, das ich um mich herum sah. Als eines Tages eine Mitpatientin, die zusah, wie Arbeiter im Freien Rinnen gruben, zu mir sagte: «Schau, sie graben unsere Gräber», wusste ich, dass sie es glaubte. Ihre Worte sind ein Beispiel für die Worte und das Verhalten meiner Figur Istina Mavet. Als hätte ich ein unbekanntes Land betreten, lernte ich in den nur sechs Wochen meines Aufenthalts viel von der Sprache und den Verhaltensweisen der Landesbewohner. Auch andere lernten schnell – die Mädchen aus der Erziehungsanstalt waren geschickt darin, ihren Tag durch eine das Beispiel nachahmende «Darbietung» zu beleben.
Bisher hatte ich der Gemeinschaft meiner Familie angehört. In
Zu den Inseln
verwende ich ständig die erste Person Plural – wir, nicht ich. Meine Zeit als Studentin war eine Ich-Zeit. Jetzt, als Seacliff-Patientin, war ich erneut Teil einer Gruppe, aber noch einsamer, nicht einmal ein gespaltenes «Ich». Ich wurde «sie», eine von «ihnen».
Als ich Seacliff im Dezember 1945 auf eine sechsmonatige Probezeit verließ, um in einen Willowglen-Sommer zurückzukehren, die strahlendste Zeit in Willowglen, hatte ich das Gefühl, eine bedeutsame innerliche Veränderung mit mir zu nehmen, bewirkt durch meine Erfahrungen in einer psychiatrischen Anstalt. Ich betrachtete meine Familie, und ich wusste, dass sie nicht wussten, was ich gesehen hatte, dass an verschiedenen Orten überall im Land Männer und Frauen und Kinder eingesperrt waren, verborgen gehalten mit nichts als einem Beinamen. Ich stellte fest, dass das Verhalten meiner Familie sich auf fast unmerkliche Weise verändert hatte, seit ich Patientin in Seacliff gewesen war, wo die Verrückten lebten. Weshalb gebrauche ich abermals die Metapher einer Spinne? Es schien, als hätte ich durch meinen Aufenthalt im Krankenhaus wie eine Spinne zahlreiche Fäden um mich gewoben, die auf unsichtbare Weise alle erreichten, die «Bescheid wussten» und sie in eine Paralyse starrer Posen und Ausdrucksweisen und Gefühle zwangen, was mich unglücklich und einsam machte, mich aber auch die Macht erkennen ließ, die ich aus dem Spinnen des Netzes bezog, und die Ohnmacht derjenigen, die darin gefangen waren.
Nachdem ich ein, zwei Wochen zu Hause gewesen war, wurde meine Familie in meiner Gegenwart weniger ängstlich – diese Veränderung zeigte sich in einem Nachlassen der Furcht in ihrem Blick; wer weiß, was ich anstellen würde; ichwar doch verrückt, oder nicht? Mutter begann typischerweise alles zu dementieren. Ich sei ein glücklicher Mensch, sagte sie. Es müsse ein Irrtum gewesen sein. Ich merkte, dass alle
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