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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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gesetzlichen Anspruch darauf erheben, wenn meine «Probezeit» von sechs Monaten um sei, und auch dann nur, wenn der Arzt meine geistige Gesundheit bestätige.
    Vielleicht konnte ich dann Krankengeld beziehen, bis ich wieder zu arbeiten anfing?
    Mein Besuch bei dem für Seacliff zuständigen Arzt im Krankenhaus von Oamaru sorgte für Bestürzung, denn der ärztliche Befund lautete: Diagnose –
Schizophrenie
.
    Zu Hause verkündete ich halb stolz, halb angstvoll: «Ich habe
Schitzofrenie

    Im Kapitel über Anomale Psychologie in meinem Psychologielehrbuch fand ich keinen Hinweis auf
Schizophrenie
, lediglich auf eine Geisteskrankheit, die offenbar nur junge Leute wie mich befiel –
dementia praecox
, beschrieben als schrittweiser Verfall des Geistes, unheilbar. In den Anmerkungen am Ende des Kapitels fand ich die Erklärung,
dementia praecox
sei heute als
Schizophrenie
bekannt.
Schitzofrenie.
Ein schrittweiser Verfall des Geistes. Des Geistes und Verhaltens. Was würde mit mir passieren? Unheilbar. Schrittweiser Verfall. Ich litt an
Schitzofrenie
. Das Wort schien mein Schicksal zu buchstabieren, so als habe ich mich aus einem Kokon, dem natürlichen menschlichen Stadium, in ein anderes Geschöpf entpuppt, und selbst wenn es Seiten an mir gab, die den Menschen vertraut waren, würde mich mein schrittweiser Verfall immer weiter von ihnen wegführen, und zum Schluss würde mich nicht einmal mehr meine Familie erkennen.
    In den letzten Tagen des strahlenden Willowglen-Sommers stellte sich dieses Gefühl des Verhängnisses immer nur kurz ein, wie vorüberziehende Wolken, die die Sonne verdunkeln. Ich wusste, dass ich schüchtern war, dass ich zur Angst neigte – und das erst recht nach meinen sechs Wochen in der Anstalt und all den Eindrücken dort –, dass ich von der Welt der Fantasie völlig in Anspruch genommen war, aber ich wusste auch, dass ich absolut präsent in der «wirklichen» Welt war und dass der einzige Schatten, der auf mir lag, im schriftlichen Eintrag auf dem ärztlichen Befund bestand.
    Kurz vor Beginn des Studienjahres bewarb ich mich in einer Anzeige, in der ich mich als «wissenschaftlich arbeitende Studentin» bezeichnete, um eine Stelle als Haushaltshilfe in Dunedin und erhielt Antwort von einer Mrs B. aus der Playfair Street in Caversham, die eine Pension führte und ältere Frauenbetreute. Ich sollte als Hausgehilfin, Serviererin und Pflegerin arbeiten, für drei Pfund die Woche «einschließlich Kost und Logis», die Nachmittage frei. Die Nachmittage frei. Zeit, meine Kurzgeschichten und Gedichte zu schreiben.

11
Die Pension und die Neue Welt
    Wieder einmal fuhr ich mit dem Sonntagszug, der an jedem Bahnhof hielt, nach Süden, nach Dunedin, und blickte aus dem altmodischen Waggon, der für die wenigen Reisenden angehängt worden war, hinaus auf die sich spiralförmig bewegenden Verbindungsstücke der mit geteertem Segeltuch bedeckten Güterwagen. Wie gewöhnlich wurde entladen, beladen, es gab einen Ruck, wenn die Güterwagen abgekoppelt wurden, und lange Pausen, in denen der Waggon am Ende des Zuges allein inmitten der eingezäunten Wiesen mit Eukalyptusbäumen, Tussockgras, Südseemyrtensträuchern,
Matagouri
, Sümpfen, Schafen und verlassenen Häusern zu stehen schien, so als führte die Reise in ein Nirgendwo, das auch ein Gestern war, erfüllt von Frieden und Trauer. Ich blickte aus dem altmodischen Schiebefenster (im Gegensatz zu den neueren Kurbelfenstern der Expresszüge), und ich spürte eine Kraft, die nur die Kraft der Liebe gewesen sein konnte und die mich zu dem Land hinzog, wo niemand zu Hause zu sein schien. Ich empfand ein neues Gefühl der Verantwortung für alles und jeden, da ich stets die Erinnerung an die Menschen mit mir trug, die ich in Seacliff gesehen hatte, und dieses Wissen veränderte sogar die Landschaft und mein Gefühl ihr gegenüber.
    Als der Zug am Bahnhof von Seacliff hielt, sah ich die wenigen
Freigänger
, die auf dem Bahnsteig standen, um den Zug vorbeifahren zu sehen. Ich
wusste es einfach
. Innerlich beschriebich mich ständig mit den Worten, die, wie ich wusste, Verwandte und Freunde jetzt gebrauchten: «Sie war in Seacliff. Sie mussten sie nach Seacliff bringen.» Und ich dachte an das Entsetzen in Mutters Stimme, als der Arzt vor Jahren vorgeschlagen hatte, dass Bruddie dort eingewiesen werden sollte, und Mutter geantwortet hatte: «Niemals. Niemals. Keines meiner Kinder wird je dorthin gehen.» Aber ich war doch eines ihrer Kinder, oder nicht?

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