Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
ausruhte. Auch konnte ich die Angst im Gesicht meines Vaters nur zu deutlich sehen, wenn er Mutter anschaute: Er konnte es nicht ertragen, dass sie ihn verließ.
Ich besorgte mir die Platzkarte für den Zug nach Auckland. Meine Familie verstand nicht, warum ich Willowglen verlassen wollte, und ich versuchte es auch nicht zu erklären. In der Hoffnung, Krankengeld zu erhalten, um mich meinem Schreiben widmen zu können, schrieb ich an Dr. Blake Palmer, der diese Hoffnung zunichtemachte mit seiner Behauptung, ich könnte womöglich «die Gewohnheit zu arbeiten aufgeben», wenn ich eine finanzielle Unterstützung bekäme. Die Seichtheit der behördlichen Ansichten deprimierte mich. Noch deprimierender war die Erinnerung, dass man mir schreckliche Behandlungen aufgezwungen und Entscheidungen über mich gefällt hatte, ohne dass irgendjemand mich persönlich näher kennengelernt hatte; und nun wurde wiedereine solche Entscheidung getroffen. Als Antwort sandte ich ihm zwei Gedichte, «Der Papierdrache» und «Im gläsernen Berg», für die ich absichtlich Bilder gewählt hatte, die als «schizophren» galten – Glas, Spiegel, Spiegelbilder, das Gefühl, durch Glasscheiben von der Welt getrennt zu sein –, in der Hoffnung, dass meine Botschaft bei ihm ankam. Ich fand, die Anstalt hätte zumindest den Versuch machen können, den Patienten bei ihrer Wiedereingliederung ins Leben behilflich zu sein.
Ich brach nach Auckland auf, Bruddie fuhr mich mit seinem Lastauto zum Bahnhof. Wir verabschiedeten uns voneinander. Ich würde bald auf Besuch nach Hause kommen, sagte ich. Und achte darauf, dass Mutter ihre Pillen nimmt.
In meinem Gepäck befanden sich zwei Exemplare meines neuen Studiofotos in seinem hellbraun marmorierten Rahmen.
19
Oben im Norden
Und wieder eine Reise. Durch die Canterbury Plains und über die Flüsse, Waitaki, ein Blick hinaus zu den Eukalyptusbäumen in der Ferne in Rakaia, dann der Rangitata; weiter nach Lyttleton und auf die Fähre; eine windstille Nacht; dann Petone und Tante Polly und Onkel Vere.
Tante Pollys froschgrünes neues Auto; sie fuhr mit mir in der Umgebung herum, zeigte mir General Motors, wo Onkel Vere arbeitete, auch den Hutt-Fluss; und ganz stolz das Haus, in dem Bob Scott, der berühmte Rugbyspieler, wohnte.
«Er wohnt nicht weit von uns. Ein Ansässiger.»
Tante Polly war die weibliche, etwas schmächtigere Ausgabe von Dad – putzmunter, schnell im Denken und Sprechen, mit einem Blick für Details und einer Liebe zur Perfektion. Tante Polly war als «penibel» bekannt – bezüglich ihrer und anderer Leute Kleidung, Benehmen, Ideen. Sie war in unserer Familie als die Tante bekannt, die «Schliff» hatte, und bei ihren seltenen Besuchen bei uns in Oamaru lautete ihr häufigster Satz: «Man muss
Schliff
haben.» Dann zählte sie diejenigen Familienmitglieder, Freunde und Bekannten auf, die keinen Schliff hatten, wobei sie Gypsy, der Zwillings-schwester ihres Mannes, das höchste Lob zollte. Wenn Tante Pollys Besuch bei uns vorüber war, verbrachten wir Kinder den Rest der Woche damit, sie beim Spielen nachzuahmen: «Haben Sie
Schliff
, gnädige Frau? … Oh, Sie müssen
Schliff
haben. Ich habe
Schliff!
»
Mutter sprach großzügig und leicht ironisch von Tante Polly: «Natürlich, Poll hat Schliff.»
An jenem Abend bestieg ich den Zug nach Auckland, und am nächsten Morgen, völlig durchgerüttelt, merkte ich, wie der Zug in den Bahnhof von Auckland einfuhr, und plötzlich war «der Norden» wieder da, wo Luft und Licht blau und paradiesisch waren.
Und da waren auch schon June, Wilson und ihre drei Kinder, um mich abzuholen und mit mir zu ihrem neuen Haus in Northcote zu fahren.
Ein paar Tage nach meiner Ankunft in Auckland fand ich eine Stelle mit Kost und Logis als Zimmermädchen im Trans-Tasman-Hotel, wo es im Gegensatz zum Grand Hotel in Dunedin mit seiner Familienatmosphäre viele Zimmer, viele Stockwerke und zahlreiche Angestellte gab und wo man bei jeder Tätigkeit ein Gefühl von Zeitdruck hatte. Das Speisezimmer des Personals war immer voll. Die Leute lächelten nie und sprachen in energischem, schroffem Ton. Mir wurde ein ganzes Stockwerk zugeteilt, mit den üblichen Pflichten, die Betten zu beziehen, in den Zimmern Staub zu wischen und sauber zu machen und den Flur und die Badezimmer zu putzen; meine eigene Unterkunft war ein winziges Zimmer auf der obersten Etage, die
Olymp
genannt wurde, und alles hätte problemlos verlaufen können. Bald fand ich heraus, dass
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