Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
isoliert und zu Standbildern macht, um sie mit seiner Fantasie zu verwandeln.
    Nachdem Onkel Vere so weit verwandelt war, dass er Tante Pollys Geschmack entsprach, gab es wieder normale Konversation, sogar Freundlichkeit und Gelächter.
    Ich ging früh zu Bett und kauerte mich unter die eine und einzige Decke, während der bitterkalte Wellington-Wind unterder Tür herein und durch den Zwischenraum zwischen dem Sackleinen und den Rahmen meines durchhängenden Bettes blies.
    Am nächsten Morgen fuhr mich Tante Polly in ihrem froschgrünen Auto zur Fähre, wo wir Dad abholen wollten, und als ich ihn die Gangway herunterkommen sah, mit seinem ergrauenden Haar, das im Winterlicht von Himmel und Meer noch grauer aussah, und mit seinem verlorenen Blick, der auf eine innere Verwirrung durch seinen Kummer zurückzuführen war (obgleich er nach außen hin elegant aussah mit seinen geputzten Schuhen und dem tadellosen Ausgehanzug), brach ich in Tränen aus und ging ihm entgegen. Ich hatte ihn seit Mutters Tod nicht gesehen. Seine Lippe schob sich vor wie die eines schmollenden kleinen Kindes und zitterte, und wir umarmten einander und weinten. Anders als Tante Polly war Dad stolz auf mein Stipendium und meine Überseereise, und sein Stolz, einmal erwacht, konnte schon immer andere, schmerzlichere Gefühle bezwingen.
    «Du fährst also nach Hause», sagte er.
    Ich war verblüfft. Ich hatte ihn die Nordhalbkugel noch nie als
zu Hause
bezeichnen hören; normalerweise hatte er sich über die Leute lustig gemacht, die das Vereinigte Königreich noch immer ihr
Zuhause
nannten; ich hatte ihn verächtlich sagen hören: «Zu Hause, so ein Quatsch. Hier ist zu Hause, hier. Oder ich hüpfe seitwärts nach Puketeraki.»
    Während meines Aufenthalts hörte ich ihn mehrmals sagen: «Janet fährt nach Hause, wisst ihr.» Ich stellte fest, wie ich ein Ansehen gewann, das meine Identität als «verrückte Nichte» fast überdeckte. Ich war nun die «Nichte, die nach Übersee fährt,
nach Hause
».
    Plötzlich begriff ich, dass mein Vater das Wort «Zuhause»aus Achtung vor Tante Polly und Onkel Vere und den anderen Verwandten verwendete, denn es war
ihre
Ausdrucksweise, die er mit intuitiver Höflichkeit oder aus Abneigung, anders zu wirken, übernommen hatte. Er gebrauchte auch sein Messer und seine Gabel anders, so wie Tante Polly. Und er furzte kein einziges Mal. Wie ich schon sagte, wurden Tante Polly und Onkel Vere für Mitglieder der «feinen Gesellschaft», gehalten – ein nebulöser, fluktuierender Bereich, an dessen Rand ein paar Bürgermeister und Gemeinderäte und andere anerkannte, «wichtige» Leute angesiedelt waren. «Er ist jemand, weißt du», pflegte Tante Polly zu sagen. Ich hörte sie nie von jemandem sagen: «Er ist niemand», aber sie deutete durchaus an, dass nicht jeder jemand war.
    Mutters Schwestern Elsie und Joy luden mich zum Frühstückstee in Kircaldies ein. Auch sie betrachteten meine Kleidung mit kritischem Blick und fanden die Tatsache bedenklich, dass ich «dem Richtigen noch nicht begegnet», das heißt verheiratet war, aber ihre Art der Kritik war ohne Schärfe oder Bitterkeit. Es waren schöne Frauen, die herzlich lachten, während sie in Erinnerungen über Kircaldies in ihrer Jugendzeit schwelgten. Sie waren sanft, gütig, besorgt, und Tante Joys braune Augen blitzten ängstlich und erschrocken auf wie die Augen eines wilden Tieres, und weil ich sie nicht gut kannte, konnte ich den Ursprung dieses Blicks nicht erraten.
    Beide betonten beharrlich, ich würde einen wärmeren Mantel für den nördlichen Winter brauchen, und kauften mir «halbe-halbe» einen warmen braunen Mantel.
    «Jetzt siehst du schicker aus», sagten sie.
    Und selbst Tante Polly war mit meinem neuen Mantel einverstanden.
    «Zumindest bedeckt er diese scheußliche Jacke.»
    Ich verzieh ihr; Schneiderin für die ganze Welt zu sein bringt schwere Verantwortung mit sich.
    Die
Ruahine
fuhr in den Hafen ein. Es war der Abend vor meiner Abreise. Tante Polly, Onkel Vere und Dad begleiteten mich auf das Schiff, halfen mir, die Kabine mit den sechs Kojen zu finden, die mehrere Geschosse vom Hauptdeck entfernt war, und gingen dann, fast als hätten sie Angst, gefangen genommen zu werden, als wäre das Schiff ein Gefängnis, wieder an Land und auf den Kai.
    «Wir bleiben nicht, bis sie abfährt.»
    Dad sprach voll Stolz über das Schiff, so, wie er von der Lokomotive gesprochen und «sie» zu ihr gesagt hatte. Auch für Flüsse verwendete er das

Weitere Kostenlose Bücher