Ein Engel im Winter
sich hochgeworfen, und es gelingt ihr gerade noch, sich an einem Grasbüschel festzuhalten und sich aus dem Wasser zu ziehen.
Sie ist gerettet.
Ohne Atem zu holen dreht sie sich um, aber er ist nicht mehr da.
»Nathan!«
Kopflos vor Angst, die Augen voller Tränen, schreit sie so laut sie kann:
»Nathan! Nathan!«
Aber er kommt nicht mehr an die Oberfläche. Sie überlegt blitzschnell. Sie muss etwas unternehmen.
Durchnässt von Kopf bis Fuß, zitternd, mit blauen Lippen, rennt sie los, um einen Erwachsenen zu holen.
Lauf schnell, Mallory!
13. Juli 1977
Nantucket
Sie sind dreizehn Jahre alt.
Sie haben ihre Fahrräder genommen und sind den Radweg nach Surfside Beach runtergefahren, dem größten Strand der Insel.
Der Himmel bewölkt sich, und die Wellen tragen Schaumkronen. Dennoch zögern sie keinen Moment, ins Wasser zu gehen. Im Gegenteil, sie bleiben sogar lange im Wasser und schwimmen, bis sie erschöpft sind.
Erst als die Wellen gefährlich werden, kehren sie ans Ufer zurück. Der Wind weht stürmisch. Mallory zittert. Sie haben nur ein Handtuch mitgenommen. Nathan trocknet ihr die Haare und den Rücken ab, während sie mit den Zähnen klappert. Der Regen fällt in großen Tropfen auf den Sand, einige Minuten später ist der Strand menschenleer. Nur noch sie beide sitzen im prasselnden Regen und im peitschenden Wind.
Er erhebt sich zuerst und hilft ihr aufzustehen. Plötzlich beugt er den Kopf zu ihr hinunter. Instinktiv schaut Mallory zu ihm auf und stellt sich auf die Zehenspitzen. Er legt die Hände um ihre Taille. Sie legt die Arme um seinen Hals. In dem Moment, in dem ihre Lippen sich berühren, spürt sie einen wohligen Schauer. Sie schmeckt das Meersalz auf seinen Lippen.
Das ist ein erster, sehr sanfter Kuss, der so lange dauert, bis ihre Zähne aneinander stoßen.
6. August 1982
Beaufort, North Carolina
Sie ist achtzehn Jahre alt.
In diesem Sommer ist sie weit weg in ein Ferienlager gefahren.
Es ist acht Uhr abends. Sie geht an dem kleinen Hafen spazieren, an dem die Segelschiffe neben den Fischerbooten festgezurrt sind. Eine orangene Sonne versinkt am Horizont und setzt den Himmel in Flammen. Von weitem sieht es so aus, als ob die Schiffe auf geschmolzener Lava dahinzögen.
Aber für sie ist es ein trauriger Abend. Während sie sich vom rhythmischen Plätschern der Wellen an die Hafenmauer einlullen lässt, zieht sie eine Bilanz der vergangenen Monate.
Ihr erstes Jahr an der Universität ist ein Reinfall gewesen. Nicht so sehr vom Standpunkt ihrer Studienergebnisse aus, sondern eher was ihre Gesundheit und ihr Liebesleben betraf: Sie hat sich zweimal überreden lassen, mit Typen auszugehen, die ihr egal waren, und sie hat keine richtige Freundin. Sie hat viele Bücher gelesen, sich für aktuelle Dinge interessiert und für die Wirklichkeit, die sie umgibt, aber in ihrem Geist scheint eine Art Chaos zu herrschen.
Im Laufe der Monate hat sie sich immer mehr in sich zurückgezogen, obwohl sie doch sonst offen für andere ist. Unmerklich hat sie ihre Ernährung vernachlässigt, erst ließ sie das Frühstück und kleine Zwischenmahlzeiten ausfallen, dann aß sie sogar bei den Hauptmahlzeiten immer weniger. Um die seltsame Unordnung auszugleichen, die sie in ihrem Kopf spürte, verweigerte sie sich Nahrung, um eine Art Leere in ihrem Körper zu schaffen. Aber sie spielte mit dem Feuer, bekam schließlich einen Schwächeanfall im Audimax, und der Dozent musste einen Arzt rufen lassen.
In der letzten Zeit geht es ihr ein wenig besser, aber sie weiß genau, dass sie vor einem Rückfall nicht gefeit ist.
Seit beinahe drei Jahren hat sie nichts mehr von Nathan gehört. Da Eleanor Del Amico nicht mehr für ihre Eltern arbeitet, hat sie ihn nicht mehr gesehen. Anfangs schrieben sie sich lange Briefe, dann aber siegte die räumliche Entfernung über ihre Zuneigung.
Dennoch hat sie ihn nie vergessen. Irgendwo in einer Ecke ihres Gehirns war er immer gegenwärtig. An jenem Abend fragt sie sich, was wohl aus ihm geworden sein mochte. Wohnte er noch in New York? Hatte er es geschafft, eine angesehene Universität zu besuchen, wie er es immer vorhatte? Wollte er sie wiedersehen?
Sie geht immer noch an der Hafenmole entlang, beschleunigt aber ihre Schritte. Plötzlich spürt sie das dringende Bedürfnis, mit ihm zu reden. Heute Abend noch, auf der Stelle.
Sie stürzt auf eine öffentliche Telefonzelle zu, ruft die Auskunft an, die ihr die gewünschte Nummer gibt.
Dann dieser Anruf
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