Ein Engel im Winter
vielleicht ein Symptom, ein Zeichen nicht richtig gedeutet?
Seit sie als Kind in diesen See gefallen war und beinahe ertrunken wäre, hatte sie eine panische Angst vor dem Sterben. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass es etwas Schlimmeres geben könnte als ihren eigenen Tod. Doch als sie Mutter geworden war, hatte sie begriffen, dass die härteste aller Proben darin bestand, den Tod des Wesens erleben zu müssen, dem sie das Leben geschenkt hatte. Sie musste sich damals der Tatsache beugen: Es gab etwas Schlimmeres, als zu sterben.
Irgendwo hatte sie gelesen, dass vor zweihundert Jahren neunzig Prozent aller Kinder das Alter von drei Jahren nicht erreicht hatten. Aber das war früher gewesen, zu einer Zeit, in der die Menschen besser darauf vorbereitet waren, den Tod ihrer Nächsten anzunehmen, weil der Tod allgegenwärtig war. Doch für sie war das Leben viele grausame Monate lang stehen geblieben. Vollkommen verzweifelt hatte sie all ihre Bezugspunkte verloren.
Seans Tod würde auf immer das große Drama ihres Lebens bleiben, aber ihre größte Enttäuschung war das Scheitern ihrer Ehe. Sie waren noch während ihres Studiums zusammengezogen, und sie hatte immer geglaubt, sie würde jeden Morgen neben Nathan aufwachen, bis einer von ihnen sterben würde. Dennoch hatte sie ohnmächtig zusehen müssen, wie ihre Beziehung zerbrach. Weil sie überzeugt davon gewesen war, für einen Fehler büßen zu müssen, hatte sie kampflos akzeptiert, dass ihr Mann sich von ihr entfernte.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich ihm fremd gefühlt, und beide waren unfähig gewesen, miteinander zu reden. In dem Moment, in dem sie seine Unterstützung am meisten gebraucht hätte, hatte er sich noch tiefer in seine Arbeit gestürzt, während sie sich in ihren Schmerz vergraben hatte.
Um durchzuhalten und die Depression zu überwinden, hatte sie sich in soziale Aktivitäten gestürzt. In den letzten Monaten hatte sie an einer Website für eine Nichtregierungsorganisation gearbeitet, die für die Wahrung ethischer Grundsätze im Verhalten der Unternehmen eintrat. Ihre Arbeit bestand darin, multinationale Konzerne nach bestimmten Kriterien in Bezug auf Berücksichtigung der Arbeitsgesetzgebung und des Umweltschutzes zu klassifizieren. Die Organisation kämpfte dann für die Mobilisierung der Verbraucherverbände, die solche Firmen boykottieren sollten, die Profite mit Kinderarbeit machten oder geltende Gesetze nicht achteten.
Aber ihr Engagement beschränkte sich nicht darauf. Es gab so viel zu tun! Sie lebte in La Jolla, einem reichen Viertel von San Diego, doch die Stadt war keine Insel, die gegen alle Formen des Elends gefeit war. Jenseits der bunten Strände und der Häuser, deren Fassaden sich im Meer spiegelten, lebte ein großer Teil der Bevölkerung von der Hand in den Mund, mit wenig Geld und manchmal sogar ohne festen Wohnsitz. Dreimal wöchentlich half sie in einem Zentrum für Obdachlose. So anstrengend diese Arbeit auch war, sie fühlte sich dort wenigstens nützlich, vor allem in dieser Jahreszeit, in der die Bewohner der halben Stadt sich in den Supermärkten herumtrieben und ihre Dollars für unnötigen Krimskrams ausgaben. Inzwischen konnte sie diesen Konsumzwang, der dem Weihnachtsfest seit langem seinen eigentlichen Sinn geraubt hatte, kaum noch ertragen.
Es gab eine Zeit, da hatte sie sich gewünscht, dass ihr Mann sich gemeinsam mit ihr in der Protestbewegung engagierte. Nathan war ein brillanter Anwalt, der seine Fähigkeiten in den Dienst eines Ideals hätte stellen können. Aber das hatte so nicht funktioniert. Ohne dass sie es wirklich gemerkt hatten, beruhte ihre Ehe auf einer Art Missverständnis. Jeder hatte einen Schritt auf den anderen zugehen wollen. Sie hatte sich immer von Geselligkeiten fern gehalten, sich so wenig wie möglich in ihren Kreisen bewegt. Die Botschaft an ihren Mann war klar: »Es stört mich überhaupt nicht, dass du aus bescheidenen Verhältnissen kommst.«
Im Gegensatz dazu hatte er ihr stets beweisen wollen, dass sie keinen Versager geheiratet hatte, dass er das Zeug zum gesellschaftlichen Aufstieg hatte und seiner Familie ein komfortables Leben bieten konnte.
Sie hatten geglaubt, sie könnten einen Schritt aufeinander zugehen, aber sie hatten sich nicht getroffen.
Für Nathan war das Leben ein ewiger Kampf, in dem er die Latte immer höher legen musste, um sich seinen beruflichen Erfolg zu beweisen . und sie wusste nicht mehr, wozu.
Sie hätte ihm hundertmal
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