Ein Engel im Winter
ausreden.
»Darf ich erfahren, warum du früher kommen willst?«
Ich werde sterben, mein Liebling.
»Ich habe ein paar Tage Urlaub genommen und muss Bonnie unbedingt sehen.«
»Dafür haben wir Regeln aufgestellt.«
»Einverstanden, aber sie ist auch meine Tochter.«
Seine Stimme verriet Bestürzung. »Ich darf dich daran erinnern, dass wir sie gemeinsam aufziehen.«
»Ich weiß«, gab sie zu und beruhigte sich ein wenig.
»Wenn du mich darum bitten würdest, würde ich mich nicht so aufregen.«
Sie antwortete nicht, aber er hörte, wie sie am anderen Ende der Leitung seufzte. Plötzlich fiel ihm ein Kompromiss ein.
»Sind deine Eltern noch immer in den Bergen von Berkshire?«
»Ja. Sie wollen dort die Feiertage verbringen.«
»Hör zu, wenn ich Bonnie schon morgen abholen darf, bin ich bereit, mit ihr zwei Tage dorthin zu fahren, damit sie ihre Großeltern sehen kann.«
Sie zögerte kurz. Dann fragte sie ungläubig:
»Das würdest du wirklich tun?«
»Wenn es sein muss, ja.«
»Sie hat ihre Großeltern tatsächlich schon längere Zeit nicht mehr gesehen«, räumte Mallory ein.
»Dann ist es also okay?«
»Ich weiß nicht. Ich muss erst noch darüber nachdenken.«
Sie wollte auflegen.
Da er diese abgebrochenen Gespräche nicht länger ertrug, beschloss er, die Frage zu stellen, die ihn schon lange bewegte.
»Erinnerst du dich an die Zeit, in der wir uns immer alles erzählt haben?«
Da sie schwieg, fuhr er fort:
»An die Zeit, in der wir immer Hand in Hand durch die Straßen gingen, in der wir uns täglich dreimal bei der Arbeit anriefen, in der wir stundenlang miteinander redeten …«
»Warum fängst du davon an?«
»Weil ich jeden Tag daran denke.«
»Ich weiß nicht, ob das der richtige Moment ist, darüber zu reden«, sagte sie gelangweilt.
»Ich habe manchmal den Eindruck, dass du alles vergessen hast. Du kannst aber all das, was wir gemeinsam erlebt haben, nicht einfach auslöschen.« »Das tu ich auch nicht.«
Ihre Stimme klang etwas verändert, wenn auch kaum merklich.
»Hör mal … stell dir vor, dass mir etwas passiert … dass mich morgen auf der Straße ein Auto überfährt. Das letzte Bild, das du von uns haben wirst, ist das Bild eines geschiedenen Paares.«
Sie sagte mit trauriger Stimme:
»Aber genau das sind wir, Nathan.«
»Wir hätten uns dann in Wut und Zorn getrennt. Und ich glaube, dass du dir das ewig vorwerfen würdest und dass es für dich schwierig sein würde, damit zu leben.«
Das war zu viel für sie. Ihr platzte der Kragen.
»Ich weise dich darauf hin, dass wir deinetwegen …«
Doch als sie merkte, dass sie einen Kloß im Hals hatte, beendete sie ihren Satz nicht, sondern legte auf.
Mallory schluckte ihre Tränen hinunter, um ihre Tochter nicht zu wecken, und setzte sich auf die Stufen der Holztreppe.
Sie trocknete ihre geröteten Augen mit einem Papiertaschentuch. Als sie den Kopf hob, schämte sie sich für das Bild, das ihr der große Spiegel im Flur zeigte.
Seit dem Tod ihres Sohnes war sie abgemagert, und all ihre Lebensfreude war wie verflogen. Sie hatte wieder diese kalte Ausstrahlung, gegen die sie ihr ganzes Leben lang gekämpft hatte. Bereits als junges Mädchen konnte sie ihre Grace-Kelly-Seite nicht ausstehen: diese eisige Distanz, diese perfekte Haltung, die manche Frauen ausstrahlen, die die gleiche Erziehung wie sie genossen hatten. Perfektion war ihr stets unheimlich gewesen. Sie wollte nicht unnahbar sein, im Gegenteil, sie wollte mit beiden Füßen in der Welt stehen und offen für andere sein. Deshalb trug sie meist Jeans und weite bequeme Pullover. Seit ewigen Zeiten hatte sie kein Kostüm mehr angezogen.
Sie erhob sich, löschte alle Lampen im Wohnzimmer und zündete ein paar Kerzen und ein Räucherstäbchen an.
In den Augen der meisten Menschen war sie stabil und ausgeglichen. Doch in Wirklichkeit war sie höchst zerbrechlich, was in ihre Jugend zurückreichte, in der sie mehrere Male unter Magersucht gelitten hatte.
Für lange Zeit hatte sie geglaubt, sich davon befreit zu haben . bis Sean starb.
Obwohl das Drama bereits drei Jahre zurücklag, war ihr Schmerz noch genauso tief wie damals. Mallory hatte sich aufgerieben in der irrationalen Gewissheit, dass alles anders gekommen wäre, wenn sie in jener fatalen Nacht zu Hause gewesen wäre. Es verging kaum ein Tag, an dem sie sich nicht in Gedanken in die ersten Monate des Lebens ihres Sohnes zurückversetzte. Hatte es etwas gegeben, das sie übersehen hatte? Hatte sie
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