Ein Engel im Winter
mitten in der Nacht.
Hoffentlich geht er ans Telefon.
»Hallo?«
Er ist es.
Sie sprechen lange miteinander. Er gesteht ihr, dass er letzten Sommer ein paarmal versucht hat, sie zu erreichen.
»Haben es dir deine Eltern nicht ausgerichtet?«
Sie spürt, dass sich nichts Entscheidendes geändert hat, sie verstehen sich noch immer, als hätten sie erst gestern miteinander gesprochen.
Schließlich nehmen sie sich vor, sich Ende des Monats zu treffen.
Sie hängt den Hörer ein. Die Sonne ist hinter dem Hafen untergegangen.
Beschwingt kehrt sie zum Camp zurück. Sie ist eine andere Frau. Sie spürt, wie ihr Herz bis zum Hals schlägt.
Nathan … Nathan … Nathan …
28. August 1982
Seaside Heights, New Jersey
Zwei Uhr morgens
Am Ufer des Meeres blinken noch die Glühbirnen der Lichterketten, doch die Stände des Volksfestes schließen langsam. Der Duft von Bratwürsten mischt sich mit dem Duft von Zuckerwatte und kandierten Äpfeln. Neben dem Riesenrad dröhnt aus aufgehängten Lautsprechern zum hundertsten Mal an diesem Abend Up Where We Belong von Joe Cocker.
Mallory lässt ihren Wagen auf dem Parkplatz unter freiem Himmel stehen.
Sie will Nathan abholen. Er hat für den Sommer einen Job in diesem kleinen Badeort gefunden, der eine Stunde von Manhattan entfernt ist. Für ein paar Dollar arbeitet er an einer der zahlreichen Eisbuden am Ufer des Meeres.
Seit sie sich letztes Wochenende wiedergesehen haben, telefonieren sie jeden Abend miteinander. Eigentlich haben sie verabredet, sich erst nächsten Sonntag zu treffen, doch sie will ihn überraschen und ist extra aus Boston hergefahren. Sie hat ein Auto ihres Vaters genommen, einen riesigen dunkelgrünen Aston Martin, mit dem sie die ganze Strecke in weniger als vier Stunden geschafft hat. Endlich kommt er. Er trägt Bermudashorts und ein T-Shirt mit dem Logo des Eisherstellers, für den er arbeitet. Er befindet sich in Begleitung anderer Saisonarbeiter. Sie hört irische und spanische Akzente.
Da er sie nicht erwartet, fragt er sich von weitem, wer wohl diese Filmdiva sein mag, die an ihren Wagen gelehnt in seine Richtung blickt.
Dann erkennt er sie.
Er läuft auf sie zu. Als er bei ihr ist, nimmt er sie in die Arme, hebt sie hoch und wirbelt sie herum. Sie legt die Arme um seinen Hals, lacht und zieht seinen Kopf zu sich herunter, um ihn zu küssen, während ihr Herz heftig schlägt.
So beginnt ihre Liebe.
20. September 1982
Lieber Nathan,
nur schnell ein paar Worte, um dir zu sagen, wie wundervoll die Tage am Ende des Sommers waren, die ich mit dir verbracht habe. Du fehlst mir. Ich bin heute Morgen wieder in der Vorlesung gewesen, aber ich denke pausenlos an dich.
Mehr als einmal am Tag habe ich mir, als ich über den Campus ging, vorgestellt, dass du bei mir wärst und wir miteinander reden könnten. Ein paar Studenten, die mir begegnet sind, haben sich bestimmt über diese Verrückte gewundert, die Selbstgespräche führt.
Ich bin gern bei dir, ich liebe deine Fähigkeit, in mich hineinzuschauen und mich zu verstehen, ohne dass ich etwas sagen muss.
Ich hoffe, dass du auch glücklich bist.
Ich küsse und liebe dich.
Mallory
(Auf den Umschlag hat sie mit Rotstift ein paar Worte für den Postboten geschrieben: Briefträger, lieber Briefträger, bring die Post bitte prompt, damit mein Liebster ganz schnell meinen Liebesbrief bekommt! )
27. September 1982
Liebe Mallory,
ich habe gerade erst den Hörer aufgelegt und schon fehlst du mir … Jeder Augenblick, den ich mit dir verbracht habe, ist so wunderbar, dass ich noch viele weitere mit dir verbringen möchte.
Ich bin glücklich mit dir. Überglücklich.
Wenn ich an die Zukunft denke, sage ich von nun an nicht mehr »ich werde«, sondern »wir werden«. Und das ändert alles.
Nathan
(Auf den Umschlag hat er die Kinokarte von E.T., der Außerirdische geklebt, den sie sich gemeinsam angesehen hatten. Eigentlich bekamen sie vom Film wenig mit, weil sie sich die ganze Zeit geküsst hatten.)
Ein Sonntag im Dezember 1982
In ihrem Zimmer im Studentenwohnheim
in Cambridge
Aus der Lautsprecherbox des Plattenspielers erklingen einige Takte des Concerto von Dvorak, einfühlsam gespielt von Jacqueline Du Pré auf ihrer berühmten Stradivari. Seit einer Stunde liegen sie auf dem Bett, küssen und umarmen sich.
Er hat ihren BH abgestreift und streichelt ihre Haut, als sei sie etwas sehr Kostbares.
Es ist das erste Mal, dass sie sich lieben wollen.
»Bist du sicher, dass du es
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