Ein Engel im Winter
werden Sie brauchen«, erwiderte Nathan und mied den Blick seines Schwiegervaters.
Wexler runzelte die Stirn.
»Ich verstehe nicht.«
Nathan seufzte. Er musste seinem Schwiegervater einen Teil der Wahrheit anvertrauen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, selbst wenn er unter keinen Umständen die Boten erwähnen würde. Er zögerte kurz, dann sagte er:
»Hören Sie . ich werde bald sterben.«
»Was redest du da?«
»Ich bin krank.«
»Nimmst du mich auf den Arm?«
»Nein, es ist ernst.«
»Was ist es? Hast du . Krebs?«
Nathan schüttelte den Kopf.
Jeffrey Wexler war fassungslos. Nathan sollte sterben!
»Aber . aber . warst du wenigstens bei guten Ärzten?«, fragte er stotternd. »Du weißt doch, ich kenne die besten Ärzte aus dem Massachusetts General Hospital …«
»Das hat alles keinen Sinn, Jeffrey, ich werde sterben.«
»Aber du bist noch keine vierzig. Man stirbt nicht mit vierzig«, rief er so laut, dass die Gäste an den Nebentischen die Köpfe zu ihnen wandten.
»Ich muss sterben«, wiederholte Nathan traurig.
»Aber du siehst nicht aus wie ein Sterbender«, beharrte Jeffrey, der sich an diese Vorstellung nicht gewöhnen wollte.
»Aber es ist, wie es ist.«
»Scheiße.«
Der alte Mann blinzelte heftig. Eine Träne rollte seine Wange hinunter, aber er wehrte sich nicht gegen sein Gefühl.
»Wie viel Zeit bleibt dir noch?«
»Nicht mehr viel. Ein paar Monate … vielleicht weniger.«
»Verdammt noch mal«, murmelte Jeffrey leise, denn er wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Nathan beschwörte ihn:
»Hören Sie, Jeffrey, reden Sie mit niemandem darüber, mit niemandem. Mallory weiß es noch nicht, und ich will es ihr selbst sagen.«
»Natürlich«, murmelte Jeffrey.
»Kümmern Sie sich um sie. Sie wissen doch, dass sie Sie verehrt. Sie braucht Sie. Warum rufen Sie sie nicht öfter an?«
»Weil ich mich schäme«, gestand der alte Mann.
»Schämen? Wofür?«
»Für meine Schwäche. Ich schäme mich, nicht genug Kraft zu besitzen, mit dem Trinken aufzuhören …«
»Wir haben alle unsere Schwächen, das wissen Sie.«
Es war wirklich eine verkehrte Welt! Nathan würde sterben, aber er tröstete Jeffrey, der nicht wusste, wie er sein Mitgefühl ausdrücken sollte. Er hätte alles dafür gegeben, das Leben seines Schwiegersohns zu retten. Alte Erinnerungen kamen ihm in den Sinn: Er sah Nathan mit zehn Jahren, als sie gemeinsam angeln gingen, oder wie er ihn mitnahm, um die »Zuckerhütten« anzuschauen, die den Ahornsirup ernteten. Zu jener Zeit betrachtete er ihn ein wenig als seinen Sohn, dem er beim Studium unter die Arme greifen wollte. Später hätten sie dann zusammengearbeitet, ihre eigene Kanzlei (Wexler & Del Amico) gegründet und ihr Talent gemeinsam für nützliche Dinge eingesetzt – für die Rehabilitierung Unschuldiger, für die Verteidigung der Schwachen … Aber die Geschichte mit dem Armband und der verdammte Alkohol hatten alles verdorben. Der Alkohol und das Geld, das verfluchte Geld, das alles pervertierte, das alles sinnlos machte, wiewohl letztlich alles immer mit dem Tod endete.
Er spürte, wie ein Schauer seinen alten Körper von Kopf bis Fuß durchlief. Gestern Abend hatte er nicht einmal bemerkt, dass er das Kind angefahren hatte. Wie war das möglich? Wie konnte man so tief sinken?
Obwohl er es sich schon hundertmal vorgenommen hatte, schwor er sich von neuem, dass er nie wieder einen Tropfen Alkohol anrühren würde.
Hilf mir, Herr, flehte er in Gedanken, obwohl er genau wusste, dass Gott ihn bereits vor langer Zeit seinem Schicksal überlassen hatte.
»Lass mich dich wenigstens vor Gericht vertreten«, sagte er plötzlich zu Nathan, »lass mich dich in dieser Unfallsache verteidigen.«
Das war das Einzige, von dem er sicher wusste, dass er es beherrschte.
Nathan nickte zustimmend mit dem Kopf.
»Ich werde dich da raushauen«, versprach Jeffrey, der seinen funkelnden Blick wiedergefunden hatte. »Es ist eine schmutzige Geschichte, aber ich bemühe mich um einen Deal mit dem Staatsanwalt – sagen wir mal achtzehn Monate auf Bewährung und ungefähr hundert Stunden gemeinnützige Arbeit. Das kriege ich hin, ich bin der Beste …«
Nathan trank einen Schluck Kaffee, dann sagte er lächelnd:
»Nach mir sind Sie der Beste.«
Um diesen Moment des Einverständnisses zu segnen, stahl sich ein Sonnenstrahl zwischen den Wolken hervor. Die beiden Anwälte wandten sich dem Fenster zu, um die neue Wärme zu genießen. Im selben Augenblick fuhr Abby
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