Ein Engel im Winter
gleichen Ergebnis. Man hatte ihn also »nur« wegen Fahrerflucht festgenommen.
Der Fall war sehr ernst. Die Tatsache, dass er zur Anwaltselite gehörte, enthob ihn nicht seiner Verantwortung: Er hatte einen Unfall verursacht, bei dem es einen Schwerverletzten gegeben hatte, und dafür drohten ihm mehrere Jahre Gefängnis. Wenn Ben zu allem Unglück sterben sollte, würde die Lage natürlich dramatischer werden.
»Verdammt, hier friert man sich ja die Eier ab«, plärrte der Säufer neben ihm.
Nathan seufzte. Er durfte den Kerl einfach nicht beachten. Er musste stark sein. Morgen würde ein Richter die – zweifellos astronomische – Höhe der Kaution festlegen, und er würde auf Bewährung freigelassen werden. Sollte es zum Prozess kommen, würde dieser erst in ein paar Monaten stattfinden, und bis dahin hatte er diese Welt längst verlassen. Vielleicht würde er einem anderen Richter Rede und Antwort stehen müssen, der um vieles Furcht erregender sein könnte als der in einem Gericht des Staates Massachusetts …
Zur selben Zeit hielt Abby Coopers ungefähr hundert Kilometer weit entfernt ihren kleinen Toyota auf dem Parkplatz eines Lebensmittelgeschäfts in der Höhe von Norwalk an. Auf dem Dach des Wagens faltete sie eine Straßenkarte auseinander. Sie suchte den kürzesten Weg nach Stockbridge.
»Hatschi! Hatschi!«
Abby nieste mehrere Male kräftig. Sie hatte einen starken Schnupfen und zudem heftige Kopfschmerzen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte es wieder zu schneien begonnen, und der leichte Schnee bildete kleine Tröpfchen auf ihrer Brille. Na prima! Immer mal wieder hatte sie versucht Linsen zu tragen, aber sie konnte sich einfach nicht an sie gewöhnen.
Zum hundertsten Mal rekapitulierte sie das Gespräch, das sie mit ihrem Chef geführt hatte. Sie konnte diese Geschichte einfach nicht glauben. Nathan im Gefängnis! Bevor er eingesperrt wurde, durfte er ein Telefonat führen, und er hatte sich entschieden, sein Büro anzurufen. Er wollte eigentlich Jordan sprechen, aber der Hauptgesellschafter war nicht da, doch Abby war am Apparat gewesen. Sie hatte gespürt, in welcher Bedrängnis er sich befand. Das war ihr derart unter die Haut gegangen, dass sie beschlossen hatte, sofort loszufahren. Doch sie konnte sich auf keinen Fall vorstellen, dass er geflohen war und ein Kind hilflos am Straßenrand zurückgelassen hatte.
Aber kannte man je einen Menschen wirklich? Vielleicht idealisierte sie ihn zu sehr. Ja, es stimmte, sie waren ein eingeschworenes Team. Sicher genoss er den Ruf, ein Karrierist, ein zynischer Hai zu sein, der zu allen Kompromissen bereit ist, aber sie kannte auch seine sensible und verwundbare Seite. Manchmal, wenn schönes Wetter herrschte, setzten sie sich in der Mittagspause gemeinsam auf eine Bank im Bryant Park, um ein Sandwich zu essen. In solchen Augenblicken bestand eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen. Sie fand ihn sehr anziehend, fast kindlich.
Nach seiner Scheidung hatte sie eine Zeit lang gehofft, sie würden sich näher kommen, aber das war nicht passiert. Sie spürte, dass er immer noch sehr an seiner Frau Mallory hing. Als sie noch in San Diego arbeitete, hatte sie die beiden mehrere Male zusammen gesehen. Sie waren tatsächlich ein bemerkenswertes Paar, als ob etwas Unvergängliches zwischen ihnen bestünde.
Krankenhaus in Pitsfield
Warteraum
1.24 Uhr
»Mister und Missis Greenfield?«
Claire Giuliani hatte voller Besorgnis den Warteraum durchquert. Sie fürchtete solche Augenblicke. »Ja, Miss?«
Das Paar, das seit mehreren Stunden voller Bangen wartete, blickte der jungen Assistenzärztin ungeduldig entgegen. Die Augen der Mutter waren tränennass, der Blick des Vaters verriet Zorn.
»Ich bin Doktor Giuliani. Als Ben hier eingeliefert wurde, habe ich mich um ihn gekümmert …«
»Mein Gott, wie geht es ihm, Frau Doktor?«, unterbrach die Mutter sie. »Können wir zu ihm?«
»Ihr Sohn hat zahlreiche Brüche erlitten«, sagte Claire. »Wir haben seinen Zustand stabilisiert, aber er hat ein Schädelhirntrauma erlitten, das eine starke Hirnprellung und ein subdurales Hämatom verursacht hat.«
»Ein subdurales Hämatom?«
»Das ist … ein Ödem, Missis, eine Schwellung, die die Gehirnmasse zusammenpresst. Wir tun unser Möglichstes, um eine Druckerhöhung im Schädelraum zu verhindern, und ich kann Ihnen versichern, dass …«
»Was soll das alles heißen?«, fragte der Vater wütend.
»Das heißt, dass wir noch nicht sagen können,
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