Ein Engel im Winter
liegen lassen. Ich hatte Ihnen bereits erklärt, dass ich zu meinen Schwiegereltern zurückgekehrt bin, um den Notarzt zu benachrichtigen.«
Abby fand diese Erklärung fadenscheinig.
»Sie haben doch immer Ihr Handy dabei.«
»Ich hatte es vergessen«, erwiderte Nathan gereizt.
Die junge Frau schüttelte zweifelnd den Kopf und wechselte auf die rechte Spur.
»Tut mir Leid, aber das klingt nicht sehr überzeugend.«
»Und warum nicht?«
»Ich habe den Unfallort gesehen: Es sind überall Häuser in der Nähe. Sie hätten im nächsten Haus telefonieren können.«
»Ich war … in Panik, ich dachte, ich sei in der Nähe der Ranch …«
Abby trieb ihn in die Enge:
»Hätten Sie den Rettungswagen früher gerufen, hätte der Kleine vielleicht bessere Chancen gehabt. Immerhin geht es um das Leben eines Kindes.«
»Ich weiß, Abby.«
Dann fügte sie wie zu sich selbst hinzu:
»Verdammt noch mal, dieser Junge ist so alt wie meiner.«
Der Anwalt war verblüfft.
»Sie haben nie erwähnt, dass Sie einen Sohn haben.«
»Er lebt nicht bei mir, das ist alles.«
»Das wusste ich nicht«, stammelte Nathan.
An seiner Stimme erkannte man, dass er tatsächlich verwirrt war.
»Wissen Sie, man kann jahrelang mit jemandem zusammenarbeiten und weiß eigentlich kaum etwas über ihn«, sagte sie vorwurfsvoll. »So ist das Geschäft eben . oder die Zeiten …«
Nach einer Weile fuhr sie fort:
»Trotz allem – ich habe Sie in gewisser Weise immer bewundert. Ich bin Ihnen ohne zu zögern von San Diego nach New York gefolgt, weil ich fand, dass Sie anders sind als all diese kleinen golden boys. Ich dachte, wenn ich eines Tages ein Problem hätte, würden Sie für mich da sein …«
»Abby, Sie haben mich idealisiert.«
»Lassen Sie mich ausreden. Kurzum, ich dachte, dass Sie im Grunde ein guter Mensch wären, ein Mann mit Wertvorstellungen …«
Noch einmal überholte sie vorsichtig einen Lastwagen, ließ ein paar Minuten verstreichen, um sich zu sammeln, und fuhr dann fort:
»Es tut mir Leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber seit gestern Abend mache ich mir keine Illusionen mehr, was Sie betrifft. Ich habe das Wichtigste verloren.«
»Und das wäre?«
»Das wissen Sie genau: das Vertrauen.«
»Warum sagen Sie das?«
Für einen kurzen Augenblick konzentrierte sie sich nicht auf die Straße, sondern wandte sich ihm zu.
»Ich kann kein Vertrauen zu einem Menschen haben, der ein sterbendes Kind am Straßenrand liegen lässt.«
Nathan hörte ihr ohne Widerrede zu. So hatte sie noch nie mit ihm gesprochen. Er spürte plötzlich das Verlangen, auf die Bremse zu treten und ihr mitten auf der Autobahn alles zu erzählen – von den Boten, von seinem bevorstehenden Tod, von der Notwendigkeit zu lügen, um seine Frau und seine Tochter zu beschützen …
Aber er schluckte alles hinunter, und sie sprachen bis Manhattan kein Wort mehr miteinander. Damit es funktionierte, durfte er niemanden einweihen.
Niemanden, außer Mallory und Bonnie.
»Mister Del Amico, nur ein paar Worte für unsere Zuschauer von Trial TV!«
Der Anwalt stieß das Mikro, das ihm der Reporter unter die Nase hielt, unwillig zurück. Hinter ihm versuchte ein Kameramann ein paar Aufnahmen zu machen. Nathan kannte diese beiden Typen:
Sie arbeiteten für einen Kabelfernsehsender, der sich darauf spezialisiert hatte, sensationelle Rechtsfälle medienwirksam zu vermarkten.
Scheiße, ich bin doch kein O. J. Simpson.
Er ließ Abby vorgehen, dann verschwand er ebenfalls in dem Gebäude in der Park Avenue.
Er spürte Erleichterung, als er das byzantinische Mosaik der Eingangshalle sah. Abby ging direkt in ihr Büro, während er in den dreißigsten Stock zum Fitness- und Erholungsraum fuhr. Er blieb eine halbe Stunde unter der Dusche und genoss das heiße Wasser. Er war todmüde, saft- und kraftlos, deprimiert und völlig am Ende. Doch allmählich fühlte er sich wieder auf der Höhe. Wasser schien auf ihn die gleiche Wirkung zu haben wie auf Pflanzen. Frisch geduscht und rasiert betrat er sein Büro. Abby erwartete ihn gelassen. Sie hatte ihm einen starken Kaffee zubereitet und ein paar Muffins für ihn besorgt. Er wühlte in seinem Schrank und fand ein Hemd, das noch in einer Plastikhülle steckte.
Purer Luxus, dachte er und schlüpfte in das Hemd. Er nahm in seinem Ledersessel Platz, schaltete seinen Computer ein und griff nach ein paar Akten, die auf dem Tisch verstreut lagen. Wieder in diesem Büro zu sein, in dem er so viele Stunden verbracht und
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