Ein Engel im Winter
wann Ihr Sohn aus dem Koma erwachen wird«, erklärte Claire besonnen. »Vielleicht in ein paar Stunden, vielleicht später … Wir müssen warten.«
»Warten? Auf was? Um zu erleben, dass er aufwacht oder dahinsiecht …«
Claire versuchte beruhigend zu wirken: »Man muss abwarten, Sir«, sagte sie und legte die Hand besänftigend auf die Schulter des Mannes.
Aber er schüttelte sie brüsk ab und schlug wütend mit der Faust ein paar Mal gegen einen der Getränkeautomaten. »Ich werde ihn umbringen. Wenn Ben nicht wieder aufwacht, werde ich diesen verdammten Anwalt umbringen.«
19. Dezember
»Es kommt gar nicht in Frage, dass du die Schuld auf dich nimmst.«
Jeffrey Wexler und sein Schwiegersohn saßen im Hinterzimmer einer Autobahnraststätte an der Interstate 90. Sie hatten jede Menge Kaffee bestellt. Über ihrem Tisch zeigte eine alte Coca-Cola-Wanduhr zehn Uhr morgens. Hier ging es hoch her: Der lokale Rundfunksender hatte gerade gemeldet, dass in den kommenden Stunden mit Glatteis auf den Straßen zu rechnen war, und die lautstarke Unterhaltung der Fernfahrer übertönte sogar den unaufhörlichen Verkehrslärm.
Eine halbe Stunde zuvor war Nathan vom Hilfssheriff, einem Typen namens Tommy Diluca, freigelassen worden. Punkt Mitternacht hatte der Anwalt ihn um Erlaubnis gebeten, auf die Toilette gehen zu dürfen. Doch der Hilfssheriff hatte ihm nicht nur seine Bitte abgeschlagen, sondern zudem die Gelegenheit genutzt, ihn zu beleidigen und in den schaurigsten Farben die Qualen zu schildern, die jene Gefangene der Strafanstalt von Lowell zu erdulden hatten, die »mindestens zwanzig Jahre« einsitzen mussten.
Jeffrey zahlte die gesamte Kaution, immerhin fünfzigtausend Dollar, während sich Abby um die juristischen Formalitäten kümmerte. Dann hatte man Nathan seine persönlichen Sachen ausgehändigt. Er hatte nur noch einen Wunsch: So schnell wie möglich zu verschwinden.
»Bis bald«, hatte ihm der Hilfssheriff mit einem sardonischen Lächeln hinterhergerufen.
Der Anwalt konnte sich nur mühsam beherrschen. Er schwieg, hob lediglich den Kopf und hielt sich aufrecht wie eine Eins, auch wenn er sich nach dieser schlaflosen Nacht auf der harten Holzpritsche wie gerädert fühlte. Als er die Glastür aufstieß, die letzte Hürde vor der Freiheit, erkannte er sein angespanntes Gesicht in der Scheibe. Er sah aus wie ein Gespenst – als sei er in einer einzigen Nacht um Jahre gealtert.
Jeffrey hatte am frühen Morgen in Begleitung seines Chauffeurs in der Kälte auf ihn gewartet. Frisch rasiert, in einem eleganten Kaschmirmantel, der ihm etwas Gebieterisches verlieh, machte Wexler einen höchst seriösen Eindruck. Man konnte sich kaum vorstellen, dass derselbe Mann wenige Stunden zuvor einen Vollrausch gehabt hatte. Nur die Art, wie er mit zitternden Händen seine Zigarre rauchte, verriet Nervosität.
Jeffrey kannte sich mit Gesten der Zärtlichkeit nicht aus und hatte seinem Schwiegersohn nur beruhigend die Schulter getätschelt, als er ins Auto kletterte. Nathan griff als Erstes nach seinem Handy und versuchte Mallory in Brasilien zu erreichen, aber nach mehrmaligem Läuten schaltete der Apparat auf den Anrufbeantworter um. Auch Jeffrey hatte schon mehrere Male vergeblich versucht, sie zu erreichen. Der Chauffeur hatte sie dann zur Autobahnraststätte gefahren. Die beiden Männer wussten, dass sie einer Unterhaltung nicht ausweichen konnten.
»Es kommt gar nicht in Frage, dass du die Schuld auf dich nimmst«, wiederholte Jeffrey und schlug mit der Faust auf den kleinen Resopaltisch.
»Ich versichere Ihnen, es ist besser so.«
»Hör zu, ich bin vielleicht Alkoholiker, aber kein Feigling. Ich will mich meiner Verantwortung nicht entziehen.«
Nathan wollte auf diese Logik nicht eingehen:
»Im Augenblick besteht Ihre Verantwortung darin, sich um Ihre Familie zu kümmern und mich gewähren zu lassen.«
Der alte Anwalt ließ sich nicht aus der Fassung bringen:
»Ich habe nichts von dir verlangt. Was du da getan hast, ist überhaupt keine gute Idee. Du weißt so gut wie ich, dass du viel riskierst.«
»Nicht mehr als Sie, Jeffrey. Wollen Sie wirklich den Rest Ihres Lebens hinter Gittern verbringen?«
»Nathan, spiel nicht den Helden. Betrachten wir es realistisch: Ich habe mein Leben gelebt, während du eine Tochter hast, die dich braucht. Und zudem weißt du genau, dass … zwischen dir und Mallory das letzte Wort noch nicht gesprochen ist … Denk an deine Verantwortung!«
»Jeffrey, die beiden
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