Ein Engel im Winter
so viele Siege verbucht hatte, war eine Erleichterung. Er liebte diesen Ort. Er liebte seine Arbeit, diesen ganzen Apparat, der ihm den Eindruck vermittelte, zu herrschen, handeln zu können, ohne selbst den Ereignissen ausgeliefert zu sein.
Er versuchte erneut Mallory zu erreichen, blieb jedoch wieder erfolglos. Dann ging er auf die Website des National Lawyer. In seinen Kreisen verbreiteten sich Nachrichten schnell. Bald fand er, was er suchte, denn als er die Rubrik »Nachrichten des Tages« anklickte, fiel ihm als Erstes folgende Meldung ins Auge:
Berühmter Anwalt der Park Avenue in schweren Verkehrsunfall verwickelt
Nathan Del Amico, einer der Staranwälte von Marble & March, wurde gestern Abend wegen Fahrerflucht festgenommen, nachdem er einen jungen Radfahrer auf einer kleinen Straße in Stockbridge (MA) angefahren hatte.
Das Opfer, ein siebenjähriger Junge, wurde mit dem Rettungswagen sofort in die Klinik von Pitsfield gebracht. Der Zustand des Kindes ist nach Auskunft der Ärzte kritisch. Der Anwalt, der heute Morgen gegen eine Kaution von fünfzigtausend Dollar freigelassen wurde, soll von Jeffrey Wexler, einem berühmten Bostoner Anwalt, vertreten werden.
Wie auch immer dieser Fall ausgehen wird, fest steht, dass er unbestreitbar das Ende der Karriere jenes Mannes bedeuten wird, den seine Berufskollegen zuweilen »Amadeus« nannten, weil er einige sehr schwierige Fälle mit größtem Geschick gelöst hatte.
Der Hauptgesellschafter von Marble & March, Ashley Jordan, der am Freitag, dem 20. Dezember, befragt wurde, erklärte, dass dieser Fall »die Privatsache« seines Mitarbeiters sei und »nichts mit den Geschäften seiner Kanzlei zu tun habe«.
Wenn Del Amico für schuldig befunden wird, muss er mit einer Gefängnisstrafe von bis zu acht Jahren rechnen.
Vielen Dank für deine Hilfe, Ashley, dachte Nathan bei sich.
Er starrte wie gebannt auf den Artikel. Der National Lawyer war die wichtigste Fachzeitschrift der Firmenanwälte. Sie entschied in diesen Kreisen über Gut und Böse.
Er las noch mal den Teil eines Satzes (»… das Ende der Karriere …«). Ein bitteres Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Ja, sicher, seine Karriere würde zu Ende gehen, aber nicht aus den Gründen, die in dem Artikel erwähnt wurden.
Dennoch war es kein besonders glorreicher Abgang. Er hatte Jahre gebraucht, um sein Image als Staranwalt aufzubauen, und methodisch die Fälle ausgewählt, die ihm zu Ruhm verhalfen. Und dieses schöne Gebilde fiel jetzt innerhalb weniger Stunden in sich zusammen.
Abby unterbrach seine Gedanken:
»Wir haben gerade ein seltsames Fax bekommen«, sagte sie und streckte den Kopf zur Tür herein.
»Ich weiß nicht, ob ich bleiben werde, Abby. Sehen Sie es sich später mit Jordan an.«
»Ich glaube aber, dass es Sie interessieren wird«, sagte sie geheimnisvoll.
Anfangs konnte Nathan nicht viel erkennen. Es war eine Art Schwarzweißfoto und zeigte – etwas verschwommen – einen Geländewagen vor einer Benzinsäule an einer Tankstelle. Ein Teil des Fotos war in einer Ecke vergrößert worden, damit man das Nummernschild lesen – oder vielmehr erraten – konnte.
Kein Zweifel: Es war ganz eindeutig sein Jeep.
Der Anwalt bemerkte nebenbei, dass der Wagen noch in guter Verfassung war: keine Kratzer, die rechte vordere Radkappe war noch vorhanden … Das Foto war also vor dem Unfall aufgenommen worden.
Als Bildunterschrift hatte jemand die ziemlich lange Adresse einer Website aufgekritzelt, die von einem Server für Kontaktanzeigen verwaltet wurde. Die Inschrift schien zu sagen: Lesen Sie weiter im Web …
Nathan setzte sich wieder an seinen Computer und ließ die angegebene Website suchen. Er landete auf einem leeren, schwarzen Bildschirm, auf dem lediglich ein Hyperlink zu sehen war. Er klickte ihn an, aber nichts tat sich: Der Link war nicht abrufbar.
Was sollte dieser Blödsinn? Innerhalb weniger Momente hatte ihn ein Gefühl des Unbehagens erfasst.
Er bat Abby, nachzusehen, woher das Fax gekommen war. Dank eines Onlinedienstes mit elektronischem Telefonbuch hatte die junge Frau innerhalb einer Minute den Absender herausgefunden. »Es ist die Nummer eines Copyshops aus Pitsfield«, erklärte sie.
Also eines Ortes, von dem aus jeder seine Faxe anonym schicken kann.
Nathan gab die Adresse noch einmal in den Computer ein und achtete darauf, keinen Tippfehler zu machen. Doch der Bildschirm sah genauso aus wie vorher – schwarz und leer.
Er sah sich das Foto noch einmal
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