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Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Titel: Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susann Pásztor
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geben sollte, reden wir drüber.«
    Wir waren angekommen, nach nicht einmal 20 Minuten Fahrzeit. Ich konnte es kaum fassen, dass dieser schreckliche Ort und das harmlose Städtchen unten im Tal so nahe beieinanderlagen. Was hatten sich die Weimarer Bürger denn vorgestellt, was da oben auf ihrem Hausberg abging? Wie viel Verachtung oder Dummheit oder Angst waren nötig, um so was gar nicht erst wissen zu wollen?
    Meiner Mutter schien es ebenfalls etwas zu schnell gegangen zu sein. »Moment mal«, protestierte sie. »Ich glaube, ich will da noch nicht rein.«
    »Du schaffst das schon«, sagte Hannah und stellte den Motor ab.
    »Ich bin mir da nicht so sicher«, sagte meine Mutter.
    »Verzeihung, aber hättet ihr das nicht vorher klären können?«, fragte Gabor gereizt.
    »Ich will da rein«, sagte ich und öffnete die Wagentür.
    Es hatte leicht zu nieseln begonnen. Der holländische Reisebus, der nicht weit von uns geparkt hatte, spuckte seine Fahrgäste aus, einen nach dem anderen. Kaum jemand schien jünger als siebzig zu sein, viele hatten irgendeine Form von Gehhilfe dabei. Jeder, der ausstieg, warf zuerst einen misstrauischen Blick auf die großen, fächerförmig angeordneten Gebäude, die mit der Stirnseite zum Parkplatz standen, und hielt damit die Nachfolgenden auf. Die Häuser waren in einem kräftigen Gelbton gestrichen und bemühten sich vergeblich um einen heiteren Eindruck. Vielleicht gelang es ihnen im Sommer bei schönem Wetter ja besser. Die vier größten sahen mit ihren drei Stockwerken fast identisch aus und erinnerten mich an Schulgebäude.
    »Das sind ehemalige SS-Kasernen«, sagte Hannah. Wir standen zu viert vor dem Auto. Gabor rauchte und musterte die Kasernen mit zusammengekniffenen Augen. Meine Mutter nahm meine Hand und drückte sie kurz. »Alles okay«, sagte sie leise und versuchte ein Lächeln, das etwas zu schief geriet, um mich wirklich überzeugen zu können.
    Die Besucherinformation war in einem der beiden flachen gelben Gebäude untergebracht. Beim Eintreten hatte ich ein flaues Gefühl im Magen, als könnte drinnen schon das erste Grauen auf mich warten, aber es sah dort aus wie in allen anderen Museen, die ich kannte. Es gab Broschüren in verschiedenen Sprachen, Kopfhörer und Abspielgeräte für geführte Besichtigungstouren und Antworten auf Fragen, wenn man welche hatte. Ich hatte eine. Nein, das Archiv sei an diesem Wochenende leider geschlossen, erfuhr ich, aber ich könne mich jederzeit schriftlich oder telefonisch an seine Mitarbeiter wenden. Ich muss sehr enttäuscht ausgesehen haben, denn die Dame an der Rezeption wechselte im Tonfall von professionell-freundlich zu trostspendend, als sie mir ein Kärtchen mit der Telefonnummer des Archivs reichte und uns einen Besuch der Ausstellung in der ehemaligen Effektenkammer empfahl. Und einen Plan vom Lager, ohne den fände man sich auf dem Gelände nicht gut zurecht.
    »Du kannst ja gleich am Montag dort anrufen«, sagte meine Mutter. Natürlich konnte ich das, aber ich war trotzdem frustriert. Ich hätte Gabor zu gern mit einem Dokument beeindruckt, das besagte, dass József Molnár tatsächlich im Herbst 1943 in Buchenwald eingeliefert worden war.
    »Ich bringe euch jetzt erst mal zum Torgebäude, und dann entscheiden wir dort, was wir als Nächstes machen«, sagte Hannah, und wir gingen nach draußen, wo die Prozession der holländischen Rentner inzwischen den Eingang der Besucherinformation erreicht und dabei Gabor komplett eingekesselt hatte, der zum Rauchen beim Parkplatz geblieben war. Er musste sich vorsichtig einen Weg durch Rollatoren und Gehstöcke bahnen, um zu uns zu gelangen, was nicht einfach war, denn die alten Leute schienen in einer Art Schockstarre gefangen zu sein: Sie redeten nicht, sie bewegten sich nicht, sie standen einfach nur da und warteten, dass jemand sie abholen kam.
    »Gehen wir?«, fragte Hannah. Gabor spannte seinen Regenschirm auf und nickte.
    Wir folgten Hannah auf einem schmalen Weg, der hinter den Kasernengebäuden entlangführte. Die meisten Bäume und Büsche trugen noch ihr gelbes Herbstlaub. Es war so still, dass ich das Wasser von den Blättern auf den Boden tropfen hörte. Aus den Augenwinkeln konnte ich ein paar kleinere Bauten links und rechts erkennen, aber da Hannah keine Anstalten machte, irgendetwas zu kommentieren, nahm ich an, dass sie nicht weiter wichtig waren. Wir wandten uns nach links, und aus dem Weg wurde eine befestigte Straße, die Straße weitete sich zu einer

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