Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
Substanzen, von denen sie sich nicht immer abwendet. Sie weiß es nur nicht. Solche Menschen gibt es häufig, sagt Jan.
7
SEIT WIR IN HANNAHS AUTO EINGESTIEGEN WAREN , massierte Gabor ununterbrochen seine Finger: erst mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand jeden einzelnen der linken, danach Wechsel, kurze Pause und dann wieder von vorn. Ich saß auf dem Rücksitz neben ihm, und nur unter dem Einsatz meiner gesamten Willenskraft gelang es mir nach endlosen Minuten, meinen Blick von seinen monotonen Bewegungen zu lösen. Gabor sah aus dem Seitenfenster. Das Gummiband, das seinen Zopf hielt, saß so stramm, dass seine Haare ganz dicht an der Kopfhaut anlagen. Eigentlich musste es ihm wehtun. Er trug eine blaue Windjacke über seinem braunen Jackett und hatte als Einziger einen Regenschirm mitgenommen, der aufrecht zwischen seinen Knien klemmte. Wahrscheinlich würde er ihn auch brauchen. Der Himmel war grau, die Wolken hingen tief. Hinter uns lagen Weimar und ein gemeinsames Frühstück, das sehr einsilbig verlaufen war. Vor uns lagen der Ettersberg und Buchenwald.
Nach wenigen Kilometern kam eine Abzweigung nach links. Ein Schild verriet, dass wir uns jetzt auf der »Blutstraße« befanden, aber ich hatte keine Lust, die anderen darauf aufmerksam zu machen und dabei diesen hässlichen Namen auszusprechen. Stattdessen trug ich ihn in mein Notizbuch ein. Auf beiden Seiten der Straße war Wald, lauter deutscher Wald. Ich konnte keine Buchen entdecken. Ich kurbelte das Fenster herunter: Es roch nach feuchtem Boden und Pilzen und modrigem Laub. Ich mag diesen Geruch. Ich denke dabei nicht an Abschied oder Tod und nicht einmal an Herbst, sondern nur an Wald. Nie riecht ein Wald mehr nach sich selber als im Oktober, und dieser hier war keine Ausnahme.
Je weiter wir nach oben kamen, umso nebliger wurde es. Vor uns fuhr ein holländischer Reisebus. Auf der linken Seite tauchte ein Hinweisschild zum Mahnmal mit dem Glockenturm auf, aber der Bus bog nicht ab, sondern fuhr geradeaus weiter, also hatten wir vermutlich dasselbe Ziel. Ich hielt das Schweigen nicht mehr aus. Immerhin hatte ich einen Auftrag.
»Kann mir einer sagen, wann genau Joschi nach Buchenwald kam?«
Die Antwort kam zweistimmig und synchron von vorne: »Herbst 43.«
»Ah, danke«, sagte ich und schrieb Herbst 43 auf.
»Sagt mal, wie naiv seid ihr eigentlich?«, fragte Gabor, und es kam so unerwartet, dass alle zusammenfuhren und Hannah sogar kurz auf die Bremse trat. »Die Deutschen haben Ungarn erst im Frühjahr 1944 besetzt. Kommt euch das nicht etwas seltsam vor?«
Zwischen der vorderen und der hinteren Hälfte von Hannahs Auto hatte sich plötzlich ein klaffender Abgrund aufgetan. Ich war, bedingt durch die Sitzordnung, versehentlich auf Gabors Kontinent gelandet.
»Und was möchtest du damit sagen?«, fragte Hannah und bedachte Gabor im Rückspiegel mit einem Blick, als hätte er gerade Naziparolen gegrölt.
Bevor Gabor antworten konnte, sagte meine Mutter: »Komm, ein paar Unstimmigkeiten gibt es in dieser Hinsicht schon.«
»Welche?«, fragte Hannah streng.
»Na, einmal die Sache mit der deutschen Besetzung Ungarns. Natürlich sind die Ungarn bis dahin auch nicht gerade freundlich mit ihrer jüdischen Bevölkerung umgegangen, aber die Deportationen begannen erst Mitte 44 unter deutscher Regie. Und dann sind da noch die vielen unterschiedlichen Angaben, die Joschi über die Zeit zwischen 1940 und 1945 bei den Behörden gemacht hat.«
»So what?«, sagte Hannah. »Wollen wir jetzt etwa nachrechnen, wie viel Zeit ein Jude tatsächlich im KZ oder in Arbeitslagern verbracht haben muss, um als anständiges Opfer zu gelten? Den meisten Menschen würde wahrscheinlich eine einzige Übernachtung dort reichen, um für ihr Leben lang traumatisiert zu sein. Natürlich inklusive Anreise im Viehwaggon.«
»Klar«, sagte meine Mutter. »Aber trotzdem können wir nicht mit Sicherheit sagen, was an Joschis Behauptungen stimmt und was nicht.«
Gabor sagte nichts mehr. Ich fragte mich, was für Szenen sich gestern Nacht während meiner Abwesenheit in der Bar zugetragen haben mochten, dass die Stimmung heute so mies war. Dann schrieb ich Aufenthaltsdauer unklar und noch einmal Archiv in mein Notizbuch, Archiv diesmal mit drei Ausrufezeichen.
»Können wir das jetzt erst mal so stehen lassen?«, fragte Hannah und bog nach rechts auf den Parkplatz der Gedenkstätte. »Ich schlage vor, ihr seht euch das hier mal an, und wenn es danach noch Klärungsbedarf
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