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Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Titel: Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susann Pásztor
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Auffahrt, und da lag es plötzlich in der nassen Herbstlandschaft: das Torgebäude.
    Alles kam heute irgendwie zu schnell und unerwartet, dachte ich und war überrascht von dem Groll, der bei diesem Anblick in mir aufstieg. Dabei war es doch nichts weiter als ein hässlicher Zweckbau mit zwei weit gespreizten Schenkeln von jeweils etwa 25 Metern Länge und einem Wachtturm in der Mitte über dem Durchgang, der ein umlaufendes hölzernes Geländer hatte und darüber einen kleinen Turm mit Turmuhr. Nur vier Legosteine hätten ausgereicht, um das Ding nachzubauen, zwei lange weiße und zwei kleinere kackbraune. Die Fenster des rechten Flügels sahen nach Bürofenstern aus, auf der linken Seite waren sie eher wie Luken und ganz weit oben angebracht und mit Holzverkleidungen verschlossen; man hätte sich Ställe dahinter vorstellen können oder Schlimmeres, viel Schlimmeres.
    Keiner von uns sagte etwas, und ich hatte Angst, diese Stille mit meiner Wut zu zerstören. Natürlich kannte ich das Torgebäude von Bildern, jeder in meiner Familie kannte es; ich wusste, dass die Turmuhr deshalb Viertel nach drei zeigte, weil die amerikanischen Befreier um Viertel nach drei zum Befreien gekommen waren, und vor allem wusste ich, was auf dem schmiedeeisernen Tor stehen würde, auf das wir uns jetzt zubewegten. Ich versuchte mir vorzustellen, ich wäre ein Buchenwaldhäftling und käme von der Arbeit im Steinbruch zurück ins Lager, aber das war keine gute Idee, weil es die Wut nur noch größer machte. Also stellte ich mir vor, ich wäre eine buddhistische Nonne, und das half tatsächlich ein bisschen. Ich konnte plötzlich wieder atmen, aber mit dem Atmen kamen bedauerlicherweise gleich die Tränen, und das wollte ich nicht, nein, nicht schon am Eingangstor rumheulen, bitte.
    Eine Hand legte sich auf meinen Nacken, ganz kurz nur, dann zog sie sich schnell wieder zurück, aber diese kleine Berührung tat mir gut, auch wenn die Hand jemand anderem gehörte, als ich erwartet hatte.
    »Jedem das Seine«, sagte Gabor. »Ich dachte immer, die Nazis hätten ›Arbeit macht frei‹ über den Toren ihrer KZs stehen gehabt.«
    »Buchenwald war die einzige Ausnahme«, antwortete Hannah. »Zur Erbauung seiner Bewohner war die Inschrift so angebracht, dass man sie von innen lesen konnte.«
    Das Tor mit der Aufschrift war halb geschlossen. Mir fiel auf, dass I, A und M die einzigen Buchstaben waren, die auch von dieser Seite lesbar waren. I am . Ich freute mich ein bisschen über meine Entdeckung.
    »Übrigens ein klassischer Grundsatz aus dem römischen Recht, Lily«, sagte Hannah. »Nur mal so als Hintergrundinformation.«
    »Mensch, du hast ja richtig Hausaufgaben gemacht«, sagte Gabor.
    »Ja, und außerdem bin ich zwanghaft und neurotisch wie alle Kinder von ehemaligen Insassen«, sagte Hannah und nahm mich an der Hand, und zusammen gingen wir durch das Tor wie Alice durch den Spiegel.
    Womit hatte ich gerechnet? Mit allem, nur nicht mit dieser endlosen Weite dahinter, diesem Nichtsmehr, wo früher einmal so viel gewesen sein musste. Ein asphaltierter Platz mit vielfach aufgerissener Decke direkt vor uns, dahinter eine Wüste aus Steinen, nein, ein Friedhof aus Steinen mit gigantischen rechteckigen Schottergräbern, die wohl den Grundrissen der früheren Baracken entsprachen, eingefasst von weiteren Steinen und dazwischen Wege aus Kies. Nirgendwo Grün, erst ganz weit hinten am Ende des Geländes ein Waldsaum, vom Nieselregen verwaschen. Die wenigen Menschen, die außer uns unterwegs waren, überquerten einzeln oder in Gruppen mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Köpfen den Platz oder spazierten verloren zwischen den Schottergräbern umher.
    »Das war der Appellplatz«, sagte Hannah leise. »Hier mussten die Häftlinge in Reih und Glied strammstehen, in Blöcken aufgestellt. Als Markierung waren im Boden weiße Steine eingelassen, die sind immer noch da.«
    »Bitte, ich möchte jetzt keine Unterweisungen«, sagte Gabor.
    »Kein Problem«, antwortete Hannah. Meine Mutter hatte ihre Hände tief in die Jackentaschen gesteckt und starrte auf den löchrigen Asphalt vor ihren Füßen.
    »Möchtest du eine kleine Führung durch das Lager, Lily?«, fragte Hannah.
    »Ich glaube, ich würde am liebsten ein bisschen allein herumlaufen«, sagte ich.
    »Ich auch«, sagte Gabor. »Bis später.«
    Wir sahen ihm nach, wie er sich nach links wandte und davonzog, den Blick auf den Boden gerichtet und den Griff des Regenschirms mit beiden Händen

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