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Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Titel: Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susann Pásztor
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umklammernd. Nach ein paar Metern musste er sich bücken, um seinen Schuh zuzubinden, und die Art, wie er dabei ungeschickt den Regenschirm ablegte, der prompt von einem Windstoß erfasst wurde und ein ganzes Stück seitwärtstrudelte, ging mir sehr nahe, ich weiß nicht, warum.
    »Und du?«, fragte Hannah und sah meine Mutter an.
    »Lass mich jetzt bloß nicht allein«, sagte meine Mutter. »Außerdem bin ich sehr empfänglich für Unterweisungen.«
    »Dann komm«, sagte Hannah.
    Wir einigten uns auf die Ausstellung im großen Kammergebäude als späteren Treffpunkt, und dann marschierten die beiden los, eingehakt und leise aufeinander einredend, und Hannahs leuchtend roter Seidenschal und ihre Haare waren der einzige Farbfleck weit und breit.
    Es hatte aufgehört zu regnen. Ich schlug die Broschüre mit dem Plan und den empfohlenen Rundgängen auf, klappte sie gleich wieder zusammen und steckte sie zurück in meinen Rucksack. Ich wollte keine Wegbeschreibung. Ich wollte nicht einmal wissen, was was war. Ich wollte einfach nur gehen und sehen und in mich aufnehmen. Und ich wollte Musik. Ich wusste nicht, ob es unpassend oder sogar respektlos war, auf dem Gelände herumzulaufen und Musik zu hören, aber es würde ohnehin niemand bemerken. Mein Vater hatte mir extra dafür Musik auf meinen iPod geladen. Sie war von Arvo Pärt. Ich wusste nicht, wer oder was Arvo Pärt war, aber mein Vater kannte sich gut mit Musik aus. Das wäre genau die richtige für so einen Anlass, hatte er gesagt.
    Ich wollte gerade losgehen, als die holländische Reisegruppe hinter mir das Torgebäude erreichte. Wie Schulkinder traten sie nacheinander in Zweiergruppen durch den Eingang, angeführt von einem Leiter, der ihnen ermunternde Worte auf Holländisch zurief, jedenfalls klang es so. Ein Paar war dabei, das sich an den Händen hielt. Ich zählte neunundzwanzig Menschen. Als Letztes kam eine sehr kleine, sehr alte Frau mit einem freundlichen Schildkrötengesicht durch das Tor, die sich an ihren blauen Gehwagen klammerte. Es dauerte ewig, bis sie auf der anderen Seite angekommen war, und dort blieb sie stehen und wendete mühsam ihren Wagen, um die Inschrift lesen zu können. Als sie sich wieder umdrehte, trafen sich unsere Blicke. Sie nickte mir zu. Sie weinte.
    Ich setzte meine Kopfhörer auf. Die ersten Töne trafen mich mitten ins Herz.

8
    ICH STAND EINE GANZE WEILE DA , ohne mich entscheiden zu können, welche Richtung ich einschlagen sollte. Rechts hinter mir war ein Stacheldrahtzaun, der am Ostflügel des Torgebäudes begann und etwa hundert Meter bis zu einem weiteren Wachtturm geradeaus verlief. Dort machte er einen Knick und verschwand hinter einer Wand aus Gebüsch und grauem Nieselregen. Direkt davor stand ein Haus mit ein paar flachen Anbauten, die halb in einer Bodensenke verschwanden. Es hätte ein Wohnhaus sein können mit seinen kleinen Fensterchen, hinter denen sogar ein heimeliges Licht schimmerte, wäre da nicht dieser riesige Schornstein gewesen, der weithin sichtbar über das Dach hinausragte. Mein Magen zog sich zusammen und meine Füße sagten nein und verweigerten sich dieser Richtung, noch bevor mein Gehirn mir durchgab, um was für ein Gebäude es sich handeln musste. Ich setzte Krematorien in Gedanken ganz oben auf die Liste der Orte, an denen ich nicht gewesen sein muss, direkt vor Raumkapseln und Kernspintomographen, und währenddessen sah ich dabei zu, wie die holländische Reisegruppe im Schneckentempo auf ein anderes Haus zusteuerte, das sich weiter nördlich auf dem Lagergelände befand. Dort hinten, wo der Wald begann, stand ein mehrstöckiger grauer Klotz, der aussah, als hätte mal eine ganze Stadt um ihn herumgestanden, die komplett weggesprengt worden war, nur ihn hatten sie vergessen. Ein Geisterhaus, das mich mit seinen gleichförmigen Fensterreihen an Rechenpapier erinnerte und das Dachgauben hatte wie Stielaugen, die vor sich hin glotzten. Ich wusste, es war das Kammergebäude, in dem wir später verabredet waren, und ich platzierte Kammergebäude zwischen Kernspintomographen und Solarien und begann mir jetzt schon Gründe zurechtzulegen, um nachher nicht hineingehen zu müssen.
    Also entweder direkt geradeaus oder nach links.
    Ich wählte schließlich irgendetwas dazwischen und näherte mich einem Paar, das neben einer Metallplatte stand, die in den Boden eingelassen und von welken Blumensträußen umgeben war. Der Mann hockte sich auf den Boden. Er hatte einen grau melierten Bart und trug eine

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