Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
bunte Strickmütze. Echte Alt-68er, würde ich sagen. Gehörte Gabor nicht auch zu denen? Die Frau beugte sich über den Mann und versuchte immer wieder ihre feuchten, gelockten Hennahaare aus dem Gesicht zu streichen, was ihr nicht gelang. Der Mann legte mit feierlicher Geste eine Hand auf die Metallplatte, während er gleichzeitig aus einer Broschüre vorlas. Ich stellte die Musik ab und nahm einen der Kopfhörer raus, weil ich verstehen wollte, was er sagte.
Mann: »Wahnsinn, ey. Da stehen die ganzen Länder, aus denen die Häftlinge kamen, und in der Mitte hat das Ding immer 37 Grad. Körpertemperatur, verstehst du?«
Frau: »Irre. Wenn jetzt Winter wäre und Schnee, das würde irre aussehen … Also ich meine, da bleibt dann doch kein Schnee drauf liegen, oder?«
Ich beschloss, die Kopfhörer von jetzt an nicht mehr abzunehmen, und überquerte den Appellplatz.
Vor mir erstreckte sich tristes Barackenland aus dunklen Feldern, die in Reih und Glied hintereinanderlagen. Ich wählte den Weg, der zwischen den beiden äußeren Reihen verlief und bis zum Waldrand führte, aber ich hätte auch irgendeinen anderen nehmen können, keiner wirkte schöner oder einladender als der andere. Die Fundamente waren von schmalen Steinen umrandet und sorgfältig mit schwarzer Schlacke aufgefüllt, auf den Wegen lag heller Kies, und die Vorplätze an der Stirnseite, auf denen Steinquader mit Blocknummern lagen, waren mit rötlichem Schotter bedeckt. Ich kam an Block 1, Block 7 und Block 13 vorbei. Es sah sehr aufgeräumt hier aus, aber selbst in dieser Aufgeräumtheit lag noch der Schrecken vergangener Tage. Am meisten hatte ich vorher befürchtet, sie hätten hier eine Art Disneyland nachgebaut mit Holzbaracken zum Reingehen und großen Puppen, die in gestreifter Sträflingskleidung Lagerinsassen spielen mussten. Links von mir konnte ich weit hinten unter den Bäumen solch einen Bau erkennen, der tat, als wäre er als einziger dort stehen geblieben, aber ich würde diese Baracke ebenso wenig betreten wie alle anderen Gebäude, die ich bis jetzt gesehen hatte.
Aus einem Schotterfeld zu meiner Rechten wuchsen grob behauene Steinsäulen wie Stalagmiten heraus. Die meisten von ihnen trugen Mützen aus kleinen Kieselsteinen, die Besucher auf ihnen abgelegt hatten. Ich konnte eingravierte Namen auf den Säulen lesen: Treblinka, Groß Rosen, Neuengamme. Zwischen meinem linken und meinem rechten Ohr fand ein Wechselgesang von Männer- und Frauenstimmen statt. Hatte es auch Frauen in Buchenwald gegeben? Ich erinnerte mich dunkel an eine Bemerkung von Hannah über ein Lagerbordell, aber von weiblichen Gefangenen wusste ich nichts.
Block 19, Block 25, Block 30. Ich durchschaute das System nicht, nach dem die Blöcke nummeriert waren. Ein Blick auf den Lagerplan hätte wahrscheinlich Klarheit verschafft, aber dazu war es mir nicht wichtig genug. Nach Block 30 mischten sich zunehmend Gras und Gestrüpp unter die Steine, und Block 36 dahinter bestand nur noch aus ein paar verfallenen Resten seiner Grundmauern. Direkt vor mir lag jetzt der Wald. Ich wandte mich nach rechts und lief den nächsten Block an seiner Längsseite ab. Nach meinen vorsichtigen Schätzungen hätte es durchaus Block 37 sein können, aber am Ende vergaß ich es zu überprüfen, weil ich Gabor am Waldrand entdeckt hatte, der dort eine Hinweistafel studierte. Ich hatte nicht die mindeste Lust auf eine Begegnung und er sicher genauso wenig, also bog ich erneut nach rechts ab und merkte mir die Stelle, um eventuell später auf das zurückzukommen, was Gabors Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Jetzt lag wieder das Torgebäude in meinem Blickfeld, und dazu gab es ein Wiedersehen mit dem 68er-Pärchen, das keine 20 Meter entfernt vor mir herumrannte, beide den Blick suchend auf den Boden geheftet. Die Frau begann zu gestikulieren und rief dem Mann etwas zu, was zusammen mit Arvo Pärts klagenden Chören sehr eindringlich wirkte, aber er reagierte nicht und nahm stattdessen seine Lieblingshaltung ein und hockte sich auf den Boden. Nachdem sie ein weiteres Mal vergeblich versucht hatte, sein Interesse zu wecken, lief die Frau an ihm vorbei bis zum Ende des Blocks, drehte sich um und kehrte mit gesenktem Kopf zu ihm zurück, als hätte sie unterwegs etwas Wichtiges verloren. Diesmal war die Versuchung groß, auf dem Plan nachzusehen, was die beiden da gerade so faszinierte, aber ich widerstand ihr. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie endlich abzogen und den Platz für mich
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