Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
betritt und meine minderjährige Mutter vor den Augen ihrer perplexen Freunde nach draußen eskortiert, das hat schon was. Das tut keiner, dem seine Kinder egal sind.
Meine Mutter lag ausgestreckt auf dem Bett, als ich aus dem Badezimmer kam.
»Mami?«, fragte ich. »Glaubst du, dass Joschi eigentlich gar keine Kinder mehr haben wollte, nachdem die anderen umgebracht worden waren?«
Meine Mutter setzte sich senkrecht auf wie ein Messer, das zur Hälfte zusammenklappt. »Genau das habe ich mich auch gerade gefragt«, sagte sie. »Und ich denke, nein, er wollte keine Kinder mehr haben. Und dann hat er immer was mit jungen Frauen angefangen, die unbedingt Kinder haben wollten. Was für ein Wahnsinn.«
»Du meinst, er wollte nicht mal dich?«, fragte ich und setzte mich zu ihr aufs Bett.
»Nein, nicht mal mich. Lotte war diejenige, die so versessen darauf war, zumal sie im Jahr davor eine Fehlgeburt hatte«, sagte meine Mutter. »Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich mich an keinen einzigen Moment erinnere, in dem Joschi mir das Gefühl gab, unwillkommen zu sein.«
»Aber ihr hattet auch viel Streit«, wandte ich ein.
»Und wie«, sagte sie. »Aber das fing erst viel später an, so mit vierzehn, fünfzehn. Wenn ich Hannahs und Gabors Geschichten höre, dann denke ich, dass ich wirklich die Glücksmarie war. Ich hatte ihn – jedenfalls das, was von ihm übrig geblieben war. Sie hatten ihn nicht.«
Mir fiel mein Traum wieder ein, und ich erzählte ihn ihr. Sie lachte erst, und dann umarmte sie mich. »Kleine Lily«, sagte sie. »Das ist ein ziemlich schräges Wochenende, und das war noch längst nicht alles, da bin ich mir sehr sicher. Willst du immer noch hier sein? Die Züge nach Berlin fahren alle zwei Stunden, glaube ich.«
»Sag mal, spinnst du?«, fragte ich empört. »Ich bin hier die Einzige, die einen offiziellen Auftrag hat, und du willst mich nach Hause schicken?«
»Ach ja, dein Referat«, sagte meine Mutter. »Das hatte ich vor lauter Familiengeschichten völlig vergessen. Wie spät ist es eigentlich? Wir sind um halb zehn unten zum Frühstück verabredet.« Sie ließ sich seitwärts vom Bett rollen und verschwand im Bad.
»Du hast noch genau fünf Minuten!«, rief ich ihr hinterher. Sie antwortete etwas, das ich nicht verstehen konnte. Wahrscheinlich hieß es: »Ich brauche bestimmt nur vier.«
Ach ja, mein Buchenwald-Referat. Fast hätte ich es ja selber vergessen, obwohl es eine Hausarbeit war, zu der ich mich freiwillig gemeldet hatte, zum Teil aus weniger edlen Motiven. Ich gestehe, ich genieße es manchmal, wenn ich sagen kann, dass mein Großvater Jude war und im KZ gesessen hat. Wer einen jüdischen Großvater hat, ist automatisch bei den Guten, jedenfalls in meiner Schule. Ich bin nicht so doof, dass ich so etwas in einer Gruppe von Glatzen bekennen würde, aber im normalen Leben bringt es schon was. Die Leute sind verunsichert, manchmal mitfühlend oder sogar ehrfürchtig, und wenn die Situation stimmt, gewinnen auch meine Argumente dadurch an Schlagkraft. Wer widerspricht schon der Enkelin eines NS-Opfers, wenn sie im Ethikunterricht vor den Gefahren des Rechtsradikalismus warnt? Keiner, der nicht ernsthaft Ärger mit der Schulleitung riskieren will. Meine Mutter hat mal erzählt, dass sie während ihrer Unizeit fein raus war, weil sie immer auf der richtigen Seite stand, während sich manche ihrer Kommilitonen vor Scham und Höllenqualen wanden, weil ihre Eltern Nazis oder Mitläufer gewesen waren. Genau das meine ich. Ich bin ein Opfer der dritten Generation, und deshalb hielt ich es für eine gute Idee, meinen Notendurchschnitt mit einem leidenschaftlichen Beitrag über das Konzentrationslager Buchenwald anzuheben, wenn ich ohnehin schon mal da war. In meinem Rucksack befand sich ein nagelneues Notizbuch, in dem bisher leider nur die bescheuerten Anmerkungen »Welcher Lebenslauf?« und »Archiv!« standen, aber das würde sich gleich nach dem Frühstück andern.
Meine Mutter brauchte nur einundzwanzig Minuten, was ihr persönlicher Rekord war, jedenfalls in meinem Beisein. Ich war streng und untersagte ihr das anschließende Föhnen der Haare, und mit knapp zwanzigminütiger Verspätung zogen wir los in Richtung Frühstücksraum. Wir nahmen die Treppe, und als wir im Erdgeschoss ankamen, hielt sie mich fest und sagte: »Wenn ich mir für heute irgendetwas wünschen könnte, dann wäre es Gleichmut.«
Meine Mutter ist auch eine Buddhistin, trotz der berauschenden
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