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Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Titel: Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susann Pásztor
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dem Boden, deren Topf mit rotbraunen Tonkügelchen gefüllt war: wunderbar, eins für Frieda. Und noch eins für Hannah, eins für Gabor, eins für meine Mutter und eins für mich, wo wir schon mal dabei waren. Natürlich fehlten jetzt mein Vater und Paul, deren persönliche Steine ich schon vergeben hatte, also kamen noch zwei weitere Kugeln dazu. Meine Familie. Ich entschuldigte mich in Gedanken bei den Eltern meines Vaters, dass sie nicht auf meinem Altar dabei sein durften, aber sie wollten auch gar nicht, glaube ich. Ich schloss meine Augen. Ich machte sie wieder auf und sortierte die Steine neu: Joschi in der Mitte und um ihn herum Lotte, Frieda und Louise. Jetzt fiel mir ein, dass ich Tamás und Véra und ihre Mutter vergessen hatte, und das ausgerechnet heute, also stand ich noch mal auf, holte drei Kügelchen und legte die eine zu Joschis Frauen und die zwei anderen hinter sie, genauso wie Joschis andere Kinder hinter ihren Müttern zu liegen kamen. Und ich hinter meiner, neben mir Paul und mein Vater und Karl.
    Die ausgelegten Steine sahen wie ein Kreuz aus, das an einem Ende eine seltsame Blase austrieb. Das gefiel mir überhaupt nicht, also machte ich die Augen zu und atmete tief ein. Genau zwei Atemzüge später öffnete meine Mutter die Zimmertür.
    »Guten Morgen«, flüsterte sie. »Soll ich wieder verschwinden?«
    »Nein, bitte bleib, das wird sowieso nichts mehr«, sagte ich schnell. Meine Mutter hatte zwei Pappbecher mit Milchkaffee in der Hand, deren Anblick mich richtig fröhlich machte. Sie warf ihre Jacke aufs Bett, beugte sich zu mir herunter und küsste mich. Dann sah sie sich meinen Altar an. »Ganz schön viel los bei dir heute Morgen.«
    Ich erklärte ihr, wer die einzelnen Steine waren.
    »Da fehlt noch jemand«, sagte meine Mutter. »Darf ich?« Sie holte eine weitere Tonkugel aus dem Blumentopf und legte sie zu Joschis Frauen. Jetzt waren es fünf.
    »Joschis erste Frau war die Mutter von Tamás«, sagte sie. »Sie hieß Mátild und starb ganz jung. Als Joschi dann Margit heiratete, war Tamás schon fünf, und kurze Zeit später wurde Véra geboren. Das war 1940, und den Rest kennst du.«
    »Moment mal«, sagte ich. »Joschi war also zuerst mit der Mutter von Tamás verheiratet. War sie auch jüdisch?«
    »Soweit ich weiß, ja.«
    »Und dann hat Joschi Margit geheiratet und Véra gekriegt, und ein paar Jahre später ist Margit mit den beiden Kindern nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht worden. Richtig?«
    »Richtig.«
    »Dann hat jedes Kind von Joschi eine andere Mutter gehabt«, sagte ich und rückte die fünf Steine gleichmäßig zurecht. Hinter jedem der fünf lag ein weiterer. Ich nahm Karl, Paul und meinen Vater wieder raus, weil sie nicht mehr in das Bild hineinpassten. Stattdessen steckte ich ihre Steine in meine Hosentasche, um sie ganz nah bei mir zu haben. Das komische Kreuz war verschwunden.
    »Jetzt ist es ein Stern mit fünf Armen«, sagte ich. »Nur einer ist länger als die anderen.«
    »Das bist du«, sagte meine Mutter und stand wieder auf. »Joschis Stern wächst an dieser Stelle weiter.«
    »Aber wenn ich später mehr als ein Kind kriege, mache ich das ganze Muster kaputt«, sagte ich.
    »Dann gib dein zweites Kind doch einfach Hannah«, schlug meine Mutter vor. »Hinter der ist noch Platz.«
    Während ich duschte, versuchte ich mir vorzustellen, wie dieses seltsame Arrangement zwischen Joschi, Louise und Alfred damals zustande gekommen war. Das eigene Kind einem anderen Mann zu überlassen, dem man schon die Ehefrau wieder zurückgeben musste, das klang wie eine griechische Tragödie. Andererseits schien es bei diesem Deal nur einen einzigen echten Verlierer gegeben zu haben, und das war Gabor. Vielleicht hatte Joschi Gabor nie geliebt, und es war ihm ganz recht gewesen, dass er ihn an Alfred abtreten konnte. Vielleicht wollte Joschi vorerst keine Kinder mehr haben, und Gabor hatte einfach das Pech gehabt, zu früh auf die Welt zu kommen, als die anderen Kinder gerade mal drei Jahre tot waren. Joschis Desinteresse an Gabor passte trotzdem kein bisschen zu dem Bild, das ich mir von meinem Großvater gemacht hatte, nicht zu der Warmherzigkeit und Zärtlichkeit, von der meine Mutter manchmal erzählte. Und schon gar nicht zu der finsteren Entschlossenheit, mit der er sie gern zu retten pflegte. Meine Mutter empfand es zwar damals als eine unangebrachte Einmischung in ihr Privatleben, aber wenn ich mir Joschi vorstelle, wie er mit grimmiger Miene eine Kneipe

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