Ein Fall für Kay Scarpetta
Schweigen. Marino wußte, daß ich neben dem Telefon wartete, und er genoß dieses Wissen.
Es war zwecklos, Spekulationen darüber anzustellen, was eigentlich falsch gelaufen war und womit es begonnen hatte. Trotzdem dachte ich manchmal darüber nach, was es mit mir zu tun hatte. Als ich Marino zum ersten Mal begegnete, war ich höflich gewesen, hatte ihn mit einem festen, respektvollen Händedruck begrüßt, während seine Augen ausdruckslos wurden.
Zwanzig Minuten vergingen, ehe das Telefon klingelte. Marino befand sich immer noch in Petersens Haus und befragte den Ehemann, der nach den Worten des Detectives "so dämlich wie eine Kanalratte" war.
Ich erzählte ihm von dem Glitzerzeug. Ich wiederholte, was ich ihm bereits erklärt hatte. Es war möglich, daß es von irgendeinem Haushaltsmittel stammte, das in jedem der Mordfälle auftauchte, irgend etwas, nach dem der Mörder suchte und das er in sein Ritual integrierte. Babypuder, Lotionen, Kosmetika, Reinigungsmittel.
Bis jetzt hatten wir viele Dinge ausgeschlossen, was in gewisser Weise der springende Punkt war. Wenn die Substanz nicht in den jeweiligen Häusern zu finden war, was ich eigentlich auch nicht annahm, dann brachte sie der Mörder mit, vielleicht sogar unbewußt, und genau das könnte wichtig sein und uns zu seinem Arbeitsplatz oder in seine Wohnung führen.
"Ja", kam Marinos Stimme über die Leitung, "na ja, ich werde meine Nase mal in die Toiletten und so stecken. Aber ich habe da meine eigene Theorie."
"Und die wäre?"
"Der Ehemann hier spielt im Theater, nicht wahr? Probt jeden Freitagabend, weshalb er so spät heimkommt, richtig? Korrigieren Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage, aber Schauspieler benutzen Theaterschminke."
"Nur bei den Kostümproben und in den Aufführungen."
"Ja", sagte er schleppend. "Nun, er sagt, daß sie eine Kostümprobe hatten, bevor er heimkam und vermutlich seine tote Frau gefunden hat. Bei mir klingelt ein kleines Glöckchen. Meine innere Stimme spricht zu mir -"
Ich unterbrach ihn. "Haben Sie bei ihm die Fingerabdrücke abgenommen?"
"Ja, natürlich."
"Stecken Sie seinen Bogen in eine Plastiktüte, und wenn Sie herkommen, bringen Sie ihn sofort zu mir.. " Er verstand nicht.
Ich ging nicht näher darauf ein. Ich hatte keine Lust, etwas zu erklären.
Das letzte, was Marino mir mitteilte, bevor er auflegte, war: "Ich weiß nicht, wann das sein wird, Doc. Ich habe das Gefühl, daß ich für den Rest des Tages hier draußen festsitze."
Es war nicht anzunehmen, daß ich ihn oder den Fingerabdruckbogen vor Montag hier sehen würde. Marino hatte einen Verdacht. Er verfolgte zielstrebig denselben Weg, den jeder Polizist verfolgt. Ein Ehemann konnte der heilige Antonius sein und in fernen Landen weilen, wenn seine Frau in Seattle ermordet wird, und trotzdem werden die Cops ihn als ersten verdächtigen.
Private Schießereien, Vergiftungen, Schlägereien und Stechereien sind eine Sache, aber ein Lustmord ist etwas anderes. Wenige Ehemänner wären so skrupellos, daß sie ihre Ehefrauen fesseln, vergewaltigen und erwürgen würden.
Ich machte die Müdigkeit für meine Konzentrationsschwäche verantwortlich. Ich war seit zwei Uhr dreiunddreißig auf den Beinen, und jetzt war es fast achtzehn Uhr. Die Polizeibeamten, die in das Leichenschauhaus gekommen waren, waren längst fort. Vander war zu Mittag nach Hause gegangen. Wingo, einer meiner Sektionsgehilfen, war kurz darauf gegangen, und ich war die einzige, die sich noch in dem Gebäude aufhielt. Die Ruhe, die ich sonst dringend benötigte, störte mich, und ich konnte nicht richtig warm werden. Meine Hände waren steif, die Fingerkuppen fast blau. Jedesmal, wenn das Telefon im Eingangsbüro klingelte, schreckte ich auf.
Die minimalen Sicherheitsvorkehrungen an meinem Arbeitsplatz schienen außer mir niemanden zu stören. Anträge für Mittel für angemessene Sicherheitsvorrichtungen waren immer wieder abgelehnt worden. Der Verwaltungsleiter dachte nur an den Verlust von Eigentum, und kein Dieb würde in ein Leichenschauhaus einbrechen, selbst wenn wir einen roten Teppich für ihn auslegen würden und die Türen weit offen ließen. Leichen sind eine bessere Abschreckung als jeder Wachhund. Die Toten haben mich nie gestört. Die Lebenden fürchte ich.
Nachdem vor einigen Monaten ein bewaffneter Irrer in die Praxis eines Arztes gekommen war und im vollen Wartezimmer um sich geschossen hatte, war ich selbst in einen Metallwarenladen gegangen und hatte eine Kette und
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