Ein Fall für Kay Scarpetta
Etiketten wurde für jede Probe erstellt, die möglicherweise genommen werden würde: Blut, Galle, Urin, Mageninhalt und ein PERK. Es sparte eine Menge Zeit und war vollkommen akzeptabel, vorausgesetzt, der Pathologe achtete darauf, das richtige Etikett auf das richtige Röhrchen zu kleben und dachte auch daran, es abzuzeichnen.
Es gab ein Detail an dieser Art von automatisierter Aufklärung, das mich nervös machte. Unvermeidlich gab es übriggebliebene Etiketten, da man nicht immer alle Proben nahm, vor allem wenn die Labors zu viel Arbeit und zu wenig Personal hatten. Ich würde zum Beispiel keine Fingernagelschnipsel als Untersuchungsmaterial hinaufschicken, wenn der Tote ein achtzigjähriger Mann war, der an einem Herzinfarkt verstorben war, während er den Rasen mähte. Was sollte man mit den übriggebliebenen Etiketten machen? Man wollte sie sicher nicht herumliegen lassen, wo sie auf falschen Röhrchen landen konnten. Die meisten Pathologen zerrissen sie. Ich hatte die Gewohnheit, sie in die Akte des Opfers hineinzulegen. So konnte ich schnell herausfinden, was getestet worden war, was nicht und wie viele Röhrchen ich weitergeschickt hatte. Wingo war auf die andere Seite des Saales getrottet und fuhr mit seinem Finger über die Seiten des Sektionsbuches.
Ich konnte spüren, wie Marino zu mir herstarrte, während er auf die Kugeln seines Mordfalles wartete. Er schlenderte in meine Richtung, genau als Wingo zurückkam.
"Wir hatten sechs Fälle an dem Tag", erinnerte Wingo mich, als ob Marino nicht da wäre. "Samstag. Ich erinnere mich. Da lagen eine Menge Etiketten auf dem Tisch dort. Vielleicht ist eine davon -"
"Nein", sagte ich laut. "Ich kann mir nicht vorstellen, wie. Ich habe keine übriggebliebenen Etiketten herumliegen lassen. Sie waren bei meinen Papieren, an meine Schreibunterlage geheftet -"
"Scheiße", sagte Marino überrascht. Er sah mir über die Schulter. "Ist das, was ich denke, was es ist?"
Ich streifte mir fassungslos die Handschuhe ab, nahm Wingo die Mappe ab und ritzte das Klebeband mit einem Daumennagel auf. In der Mappe befanden sich vier Präparate, drei davon nicht mit dem üblichen "O", "A" oder "V" markiert, was die Proben klassifizierte. Sie waren, außer dem Computeretikett auf der Außenseite der Mappe, nicht markiert.
"Vielleicht haben Sie das etikettiert, in der Meinung, daß Sie es brauchen würden, und haben dann Ihre Meinung geändert?" mutmaßte Wingo.
Ich antwortete nicht sofort. Ich konnte mich nicht erinnern!
"Wann waren Sie das letzte Mal in dem Kühlraum?"
Ein Achselzucken. "Letzte Woche, vielleicht Montag vor einer Woche, als ich das Zeug herausgenommen habe, damit die Doktoren es mit hinaufnehmen konnten. Ich war an diesem letzten Montag nicht hier gewesen. Das ist das erste Mal, daß ich diese Woche in den Kühlraum geschaut habe."
Ich erinnerte mich langsam daran, daß Wingo sich am Montag freigenommen hatte. Ich selbst hatte Lori Petersens Beweismaterial aus dem Kühlraum geholt, bevor ich meine Runden durch die Labors machte. War es möglich, daß ich diese Mappe übersehen hatte? War es möglich, daß ich so müde gewesen war, so zerstreut, daß ich dieses Material mit einem der fünf anderen Fälle an jenem Tag verwechselte?
Wenn es so gewesen war, welche Mappe war dann wirklich die von ihrem Fa ll - diejenige, die ich nach oben gebracht hatte, oder diese hier? Ich konnte nicht glauben, was geschehen war. Ich war immer so vorsichtig! Ich trug meine Schürze selten außerhalb des Sektionssaals. Praktisch nie. Nicht einmal bei Feueralarm. Einige Minuten später sahen mich die Laboranten neugierig an, als ich in meinem blutbespritzten Kittel den Gang im zweiten Stock entlanglief. Betty war in ihrem engen Büro und machte gerade eine Kaffeepause. Sie sah mich kurz an, und ihre Miene gefror zu Eis.
"Wir haben ein Problem", sagte ich ohne Umschweife.
Sie starrte auf die Mappe und das Etikett darauf.
"Wingo hat den Kühlraum im Sektionssaal geputzt. Er hat das vor ein paar Minuten gefunden."
"O Gott", war alles, was sie sagte.
Als ich ihr in das Serologielabor folgte, erklärte ich ihr, daß ich mich nicht erinnern konnte, zwei PERK-Mappen in Loris Fall etikettiert zu haben. Ich war ratlos.
Sie steckte ihre Hände in ein Paar Handschuhe und nahm Flaschen aus einem Schränkchen, während sie versuchte, mich zu beruhigen.
"Ich denke, diejenigen, die Sie mir geschickt haben, sind bestimmt die richtigen, Kay. Die Präparate paßten zu den Abstrichen, zu
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