Ein Fall zu viel
Mutter mit einem Kind auf dem Arm gerade verließ. Eilig bewegte Pielkötter sich auf das Arztzimmer zu. Nicht eilig genug.
»Wat fällt Ihnen ein«, hörte er eine wütende Stimme hinter seinem Rücken. Als er sich umsah, bestätigte sich seine Vermutung. Frau Kraschnitz war offensichtlich, so schnell es ihre Beine erlaubten, aus dem Wartezimmer herausgestürmt und fuchtelte mit ihrem Stock in der Luft herum. »Hab ich mich doch gleich gedacht, dat du dich vorfudeln wills. Aber nich mit Ursula, nich mit mir, Freundchen.«
»Das besprechen Sie am besten mit Frau Sölle«, sagte Pielkötter, so leid ihm die Sprechstundenhilfe tat. Nach einem kurzen inneren Kampf holte er jedoch seine Dienstmarke hervor, ging die wenigen Schritte auf die wütende alte Dame zu und hielt sie ihr vor die Nase. Dabei legte er den Finger auf den Mund. Tatsächlich behielt sie die nächsten Verwünschungen für sich. Bevor er sich abwandte, blickten ihre wässrig-blauen Augen sogar ein wenig verschwörerisch. Sandra Sölle schien sich das Lachen kaum verkneifen zu können.
Neugierig betrat Pielkötter ein großes Sprechzimmer mit Fenster zu einem schönen Innenhof, soweit er das von seiner Position aus beurteilen konnte. Der wuchtige Schreibtisch erinnerte ihn an seinen eigenen im Präsidium. Nur mit Telefon, Füllerset und Notizblock bestückt wirkte er wie abgeräumt. In den Praxen, die Pielkötter kannte, waren die Wände weiß oder allenfalls cremefarben gestrichen, hier hatten sie einen Ton, den Marianne wohl als pfirsichfarben bezeichnen würde. Von dem Arzt fehlte jede Spur. Wahrscheinlich war er durch eine zweite Tür in ein weiteres Sprechzimmer verschwunden, nachdem er die junge Frau mit dem Kind verabschiedet hatte. Pielkötter blieb nichts anderes übrig, als erst einmal Platz zu nehmen. Missmutig sah er auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten genehmigte er dem Doktor. Ansonsten würde er sich gezwungen sehen, das Warten durch drastische Maßnahmen zu verkürzen. Auf keinen Fall wollte er es sich entgehen lassen, Erwin Lützows Wohnung als Erster zu betreten. Wenn die Spurensicherung erst einmal angefangen hatte, war das Chaos bald perfekt, und er konnte den wichtigen ersten Eindruck vergessen.
Na endlich, dachte er, als Dr. Paul-Martin Gerstenschneider mit energischen Schritten zu seinem Schreibtischstuhl eilte. Er reichte Pielkötter eine dicke, fleischige Hand. Die unnatürliche Bräune in seinem breiten Gesicht ließ auf ein Abo im Sonnenstudio schließen.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Arzt mit fester Stimme, nachdem Pielkötter sich vorgestellt hatte. Nur seine tief liegenden Augen drückten ein gewisses Erstaunen aus.
»Erwin Lützow, einer Ihrer Patienten, ist unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen.«
Sofern ihn seine Beobachtungsgabe nicht täuschte, war Dr. Gerstenschneider bei der Erwähnung des Namens leicht zusammengezuckt. Aber das musste nicht unbedingt viel bedeuten. Welcher Arzt verlor schon gerne einen Patienten, zumal dann, wenn man ihm kurz zuvor noch persönlich die Hand geschüttelt und alles Gute gewünscht hatte?
»Was darf ich unter ungeklärten Umständen verstehen?«, fragte Dr. Gerstenschneider nun wieder ganz souverän.
»Um genau zu sein: Erwin Lützow ist vom Hochofen V im Landschaftspark Duisburg-Nord gesprungen, vielleicht auch gestürzt. Leider können wir dabei Fremdverschulden nicht ausschließen.«
»Sie meinen, er ist möglicherweise ermordet worden und deshalb kommen Sie zu mir?« Der Arzt wirkte nun doch aufgeregt. Die Souveränität, die er anfangs noch ausgestrahlt hatte, schien zu bröckeln.
»Bleiben wir sachlich«, bemerkte Pielkötter trocken. »Ein Mord ist nur eine von mehreren möglichen Varianten. Mit Ihnen wollte ich besprechen, für wie wahrscheinlich Sie einen Selbstmord halten. Möglicherweise haben Sie ihm eine schlechte Diagnose eröffnen müssen. Soweit ich informiert bin, war Herr Lützow doch vor zwei Tagen in Ihrer Praxis, und einen Tag später liegt er tot neben dem Hochofen.«
Dr. Paul-Martin Gerstenschneider atmete mehrmals hörbar ein und aus. »Also, mit dem Termin bei mir hat sein Tod ganz sicher nichts zu tun. Der Patient hat an keiner lebensbedrohlichen Krankheit gelitten. Und mit seiner Arthrose ist er gut zurechtgekommen.«
Seltsam, überlegte Pielkötter, der erzählt das alles aus dem Stegreif, ohne einen Blick in die Akte zu werfen. Nun ja, vielleicht war das nicht so ungewöhnlich, zumal Lützow ihn gerade erst aufgesucht
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