Ein Fall zu viel
ist er. Da vorne.«
»Wenden Sie das Gesicht ab und gehen Sie zum nächsten Hauseingang.« Ohne nachzudenken trat Pielkötter aufs Gaspedal und rauschte nicht mehr ganz bei gelb über die Ampel. »Melden Sie sich!«, rief er. Bei der nächsten roten Ampel würde er das Blaulicht auf dem Autodach installieren.
»Der Wagen ist schon vorbeigefahren«, antwortete Petra Ochtrup endlich. Wahrscheinlich hatte sie sich vorher nicht einmal zu sprechen getraut. »Ein schwarzer BMW war das, aber nicht der von Lukas. Der hat kein Duisburger Kennzeichen gehabt, sondern drei Buchstaben am Anfang.«
Zum Glück hatte Pielkötter grüne Welle. Er entschied, von dem Martinshorn keinen Gebrauch zu machen. Überreagieren war jetzt nicht angesagt, zumal sich die Gefahr verringerte, je weiter sich die Zeugin von dem Haus ihrer Schwester entfernte. Lukas Altenkämper würde seine Schwägerin kaum auf offener Straße in seinen Wagen zerren.
»Hallo?«, fragte er.
»Ich habe jetzt die Mülheimer erreicht«, ertönte Petra Ochtrups Stimme.
»Gut, dann treffen wir uns gleich in dem Café.«
Als er den Wagen im Halteverbot parkte, erkannte er Christiane Altenkämpers Schwester auf den ersten Blick. Sie sah dem Unfallopfer, dessen Fotos ihm aus der Akte vertraut waren, erstaunlich ähnlich. In einer Haltung, aus der das geübte Auge ihre Angst herauslesen konnte, stand sie vor dem Eingang des Cafés. Nach wenigen Schritten hatte Pielkötter sie erreicht.
»Noch einmal herzliches Beileid.« Er streckte ihr seine Rechte hin. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.«
Wenig später betraten sie den gut besuchten Gastraum. Zum Glück fand sich in einer Ecke ein freier Tisch. Während sie auf die Bedienung wartete, musterte Pielkötter ihre Miene und die geröteten Augen. Die Tränen waren also echt, überlegte er, obwohl er daran seltsamerweise nicht eine Sekunde gezweifelt hatte. Trotzdem musste er natürlich in alle Richtungen ermitteln. Wenn Lukas Altenkämper als Mörder verurteilt würde, fiel das Erbe von Christiane, die keine Kinder hinterlassen hatte, womöglich an ihre Schwester.
»Ich verschwinde mal eben zur Toilette«, erklärte Petra Ochtrup. »Falls die Bedienung kommt, bestellen Sie mir bitte einen Kaffee mit.«
»Würden Sie mir vorher schon einmal den Zettel zeigen«, erwiderte Pielkötter schnell.
Mit zittrigen Fingern nestelte sie an dem Verschluss ihrer braun-beige karierten Handtasche herum. Sie zog ein gefaltetes Blatt heraus und übergab es ihm. Während sie zur Toilette verschwand, faltete er das Papier neugierig auseinander. »Hilfe, ich werde bedroht!«, las er. Darunter standen Datum, Uhrzeit und Unterschrift. Offensichtlich hatte Christiane Altenkämper den Hilferuf etwa zehn Minuten vor ihrem Tod geschrieben.
Oder jemand wollte ihn genau das glauben lassen. Vielleicht war alles viel komplizierter. Vielleicht wollte jemand dem Noch-Ehemann die Schuld in die Schuhe schieben. Abgesehen von der Schwester fiel Pielkötter niemand ein, der davon profitieren würde. Aber das war wohl etwas weit hergeholt. So einfach war es ja nicht, jemandem einen Mord unterzuschieben. Schließlich würden sie ermitteln. Oder hielt Petra Ochtrup die Polizei für blöd? Nein, das traute er ihr eigentlich nicht zu. Trotzdem konnte es natürlich nicht schaden, einen Graphologen hinzuzuziehen.
Als Petra Ochtrup zurückkehrte, hatte sie frischen Lidschatten aufgelegt. Wahrscheinlich wollte sie die Spuren kaschieren, die ihre Tränen hinterlassen hatten. Fast zeitgleich mit ihr rauschte eine sehr junge Bedienung heran, um die Bestellung aufzunehmen.
»Was sagen Sie zu dem Hilferuf meiner Schwester?«, fragte sie, nachdem die Kellnerin an einen anderen Tisch gewechselt war.
»Nun, dadurch bekommt der Unfall in der Tat eine neue Gewichtung«, antwortete Pielkötter. »Ich nehme das sehr ernst.« Nachdenklich strich er sich übers Kinn. »Wissen Sie, was ich mich die ganze Zeit frage? Warum hat Ihre Schwester den Hilferuf ausgerechnet in den Briefkasten gesteckt?«
»Ich denke, Sie wollte nicht, dass er auf den ersten Blick zu sehen war. Wahrscheinlich hat sie damit gerechnet, dass Lukas das Haus nach ihrem möglichen Tod zuerst betritt.«
Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Nein, dachte Pielkötter, das ist ganz bestimmt nicht gespielt.
»Lukas.« Ihre Stimme versagte. »Mein Schwager hätte das Beweismittel doch sofort vernichtet. Im Briefkasten hätte es jedoch auch der Reinigungsfrau in die Hände fallen können.
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