Ein Fest der Liebe – Nacht der Wunder
weitere Dosen aus der Kiste. Einen kleinen Schinken. Cracker. Tee in einem Holzbehälter. Ein wunderschönes Glas mit Zucker in allen Regenbogenfarben.
Lizzies Augen brannten ein wenig. Ganz offensichtlich waren diese Dinge für jemanden in Indian Rock gedacht, der auf Mr. Christians Ankunft wartete. Eine Tochter? Ein Sohn? Enkelkinder?
“Da wir erst vorhin ein gutes Mahl genossen haben”, sagte Mr. Christian zu den Kindern, doch laut genug, dass alle in der Kombüse ihn hören konnten, “werden wir uns das hier für später aufheben, nicht wahr?”
“Ich mag Leber nicht”, verkündete Jack. Diesmal gelang es ihm, dem Ellbogen seiner Schwester auszuweichen. “Aber ich hätte gern was von dem bunten Zucker.”
“Später”, versprach Mr. Christian. “Erst einmal wollen wir uns die Vorfreude eine Weile bewahren.”
Beide Kinder runzelten verwirrt die Stirn. Worte wie
Mahl, Vorfreude
und
bewahren
waren ihnen unbekannt, der Vertreter hätte ebenso gut in einer fremden Sprache sprechen können.
Lizzie ging zu Morgan und sagte leise: “Whitley ist ein trauriger Dummkopf. Aber wir können ihn nicht allein da draußen rumwandern lassen. Er könnte sterben.”
Morgan seufzte. “Ich dachte gerade, dass ich besser nachsehe und ihn zurückbringe, bevor er sich verirrt.”
“Ich komme mit. Es ist schließlich meine Schuld, dass er überhaupt hier ist.”
“Sie werden hier gebraucht”, entgegnete Morgan mit einem unauffälligen Nicken in John Brennans Richtung. “Ich kann nicht an zwei Stellen gleichzeitig sein, Lizzie.”
“Ich wüsste doch gar nicht, was ich tun soll, wenn es Mr. Brennan schlechter geht. Aber wie man Bahngleisen folgt, weiß ich sehr wohl.”
Als Morgan ihr daraufhin beide Hände auf die Schultern legte, durchzuckte sie ein eigentümliches, fast schmerzliches Gefühl.
“Sie sind mutiger, als gut für Sie ist”, sagte er. “Bleiben Sie hier. Bringen Sie Brennan dazu, so viel Wasser wie möglich zu trinken. Sorgen Sie dafür, dass er warm eingepackt bleibt, selbst wenn er wegen des Fiebers die Decken abwerfen will.”
“Aber wenn er …”
“Wenn er stirbt? Ich will Sie nicht belügen. Er könnte sterben. Aber das könnten wir alle, wenn wir nicht die Ruhe bewahren.”
“Sie sind müde”, protestierte Lizzie.
“Wenn man eines als Arzt lernt, dann, dass Müdigkeit ein Luxus ist, den man sich nicht leisten kann. Ich darf jetzt nicht schlappmachen, und glauben Sie mir, das werde ich auch nicht.”
Sie wollte sich an ihn klammern, wollte ihn überreden zu bleiben, ihm eine dramatische Szene machen – aber sie zwang sich, einen Schritt zurückzutreten. “Aber wenn Sie nicht innerhalb von ein oder zwei Stunden zurück sind, werde ich nach Ihnen suchen.”
Wieder seufzte Morgan, doch dieses Mal umspielte ein winziges Lächeln seine Mundwinkel, und seine Augen schimmerten plötzlich warm und sanft. “Das werde ich im Gedächtnis behalten”, sagte er und verließ die Kombüse.
Lizzie sah ihm nach, wie er am Zug entlanglief. Lass ihm nichts zustoßen, betete sie stumm, bitte, lass ihm nichts zustoßen.
Und Whitley auch nicht.
Gleich darauf begann John Brennan zu husten. Lizzie schnappte sich eine Tasse, rannte hinaus, um sie mit Schnee zu füllen, und stellte sie auf den Herd. Die Kälte schnitt eisig in ihr Fleisch.
Ellen und Jack wirbelten im Kreis zur Musik der Spieluhr. Mr. Christian hatte ihnen gezeigt, wie man verschiedene Melodien einstellen konnte. Woodrow schien in seinem Käfig ebenfalls zu tanzen. Mr. und Mrs. Thaddings lächelten zärtlich.
“Ich verbrenne”, keuchte Mr. Brennan, als Lizzie seine Decken glatt strich. “Ich will nach draußen, mich im Schnee rollen …”
Auch wenn Lizzie ihm keine medizinische Hilfe bieten konnte, so schenkte sie ihm doch immerhin die tröstliche Gegenwart einer Frau.
“Das ist das Fieber, Mr. Brennan”, murmelte sie. “Dr. Shane sagte, dass Sie sich warm halten müssen.”
“Es ist, als ob ich in Flammen stünde.”
Wie halten Krankenschwestern und Ärzte nur ihren Beruf aus?, fragte sich Lizzie. Es war schrecklich, einen Menschen leiden zu sehen, ohne ihm helfen zu können. “Ganz ruhig”, bat sie, den Tränen nahe. “Schlafen Sie. Ich hole ein kaltes Tuch für Ihre Stirn.”
“Das wäre ein Segen”, hustete er.
Sie nahm ihren Lieblingsseidenschal aus ihrem Handkoffer und wappnete sich erneut gegen die Kälte. Doch Mr. Thaddings hielt sie auf. Er nahm ihr den Schal aus der Hand und ging selbst nach draußen.
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