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Ein fliehendes Pferd

Ein fliehendes Pferd

Titel: Ein fliehendes Pferd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser , Helmuth Kiesel
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tatsächlich nicht das Schlechteste bei diesem Regen, rief er. Dieser Regen nimmt nämlich immer noch zu. Da, die Wand, da kommt noch was. Es bleibe nichts übrig, als die Oberkleider herunterzureißen und mit nacktem Oberkörper bis hinauf zu rennen, dann habe man droben etwas Trockenes anzuziehen. Er sagte es und zog sich schon aus. Ebenso Hel. Helmut dachte, hoffentlich kommt niemand aus dem Hof. Da Hel keinen Büstenhalter trug, hatte sie, als sie Jacke und Bluse ausgezogen hatte, einen nackten Oberkörper. Ihre Brüste wirkten hier noch viel neugieriger als auf dem Boot. Helmut schaute wieder nur im Vorbeischauen hin. Er und Sabine behaupteten, sie gingen immer in Kleidern durch den Regen. Das seien sie so gewöhnt. Gebe es etwas Schöneres als einen warmen Sommerregen?
    Klaus rannte los. Sie erreichten die Landstraße. Auf der ging es im Eilmarsch hinauf zum Aussichtslokal. Bis Helmut und Sabine mit Otto ankamen, stand Klaus Buch schon frisiert und frisch vor der Tür. Helmut war vom Schwitzen und vom Regen gleich naß. Er keuchte. Auch Sabine sah erbärmlich aus. Klaus Buch lachte und sagte, bloß gut, daß Helmut die Wanderung selber geplant habe. Helmut sagte so fröhlich als möglich: Ach, ich war das, stimmt ja. Du wolltest hier herauf, sagte Klaus Buch, oder nicht? Helmut schaute den Grinsenden lächelnd an und dachte, wenn der jetzt nur einen Hauch meines Hasses spürt, rennt er weg. Dabei klopfte er Klaus Buch freundlich auf die Schulter und sagte: Natürlich war ich das. Wetter, Orientierung, überhaupt alles, was außen stattfindet, wird bei mir zur Katastrophe. Wenn das Volk Israel auf mich angewiesen gewesen wäre, säße es heute noch in Ägypten.
    Gott sei Dank, er hatte sich wieder unter Kontrolle. Während des Eilmarsches durch den Regen hatte er mit Widerwillen an die paar Sekunden gedacht, in denen er seinen Ärger nicht mehr hatte verbergen können. Es gab überhaupt nichts Ekelhafteres für ihn als dieses Offendaliegen vor einem anderen. So etwas wie Lebensfreude entwickelte sich bei ihm wirklich nur aus dem Erlebnis des Unterschieds zwischen innen und außen. Je größer der Unterschied zwischen seinem Empfinden und seinem Gesichtsausdruck, desto größer sein Spaß. Nur wenn er ein anderer schien und ein anderer war, lebte er. Erst wenn er doppelt lebte, lebte er. Alles Unmittelbare, ob bei sich oder bei anderen, kam ihm unhygienisch vor. Ließ er sich zu einem Ausbruch hinreißen – egal, ob des Ärgers oder der Freude –, überfiel ihn danach meistens eine geradezu panische Schwermut. Er glaubte sich verloren. Jeder konnte jetzt machen mit ihm, was der wollte. Manchmal hörte man in der Ferienwohnung den Hausherrn durch das Haus brüllen. Es klang, als verende Dr. Zürn gleich an der Anstrengung, die dieses Brüllen bereite. Helmut dachte dann jedes Mal – gewissermaßen beschwörend –: Bloß das nicht! Bloß das nicht! Er hatte Notmaßnahmen trainiert gegen Ausbrüche jeder Art. Eine vielleicht noch etwas eckig wirkende Fröhlichkeit hatte er trainiert. Die setzte er auch jetzt ein vor der Tür des Aussichtslokals.
    Klaus Buch führte Helmut und Sabine zu den Toiletten. Plötzlich hörte man Klavierspiel. Ziemlich mächtig. Klaus Buch erstarrte, hinderte auch Helmut und Sabine an jeder weiteren Bewegung. Sein Gesicht arbeitete. Besonders der Mund. Die Zunge wälzte sich hinter den Lippen, wollte irgendwo, vor allem an der Oberlippe, durchbrechen. Sabine sagte: Die Wanderer Fantasie. Klaus Buch rannte hinaus. Helmut ging ins Lokal. Hel saß am Klavier und spielte. Sabine ging schließlich zu ihr hin und sagte ihr etwas. Sie hörte auf. Helmut sagte, als sie vorbeiging: Schön. Sabine und Helmut folgten ihr hinaus. Sie sahen Klaus Buch in einem geradezu wilden Tempo fortrennen. Quer über die Wiesen. Plötzlich stoppte er, änderte seine Richtung, rannte weiter, auf einen Baum zu, lehnte sich an den Stamm, steckte die Hände in die Tasche und sah vor sich hin. Hel sagte: Geht nur rein, wir kommen gleich. Dann ging sie, mit fast zu festen Schritten und ohne den Blick von Klaus zu lassen, auf den zu.
    Als Helmut und Sabine von den Toiletten kamen, waren Hel und Klaus noch nicht zurück. Aber sie kamen, bevor Halms die Suppe gegessen hatten. Beide lächelten, gingen eng aneinander, ein glückliches Paar. Bei ihnen sah das Naßgewordensein heroisch aus. Als alle die Suppe gegessen hatten, fragte Klaus Buch, wie weit es noch sei auf den Höchsten. Helmut sagte, man sei schon droben. Da

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