Ein fliehendes Pferd
der sein Anstandsgefühl verletzte:
Die Begeisterung des Lehrers
Es handelt sich um einen beschränkten Gegenstand, den er nicht vollkommen beherrscht, aber mit aller Kraft darbietet. Die Schüler werden von anderer Seite über den Gegenstand besser informiert werden. Aber während sie den hartnäckigen Reden des Lehrers zuhörten, haben sie etwas gelernt, was sie nicht bemerkten. Seine Lächerlichkeit ist etwas für’s Leben. Sie werden daran mit größter Andacht zurückdenken. Je tiefer der Lehrer in der Vergangenheit versinkt, desto höher wird in den Schülern die Andacht steigen.
Sein Grinsen kam wahrscheinlich von den Skrupeln, die er hatte, weil er sich dergleichen nicht einfach verschwieg.
Wie war das angenehm, vor dem Zürn’schen Haus auszusteigen, in dem sie seit elf Jahren jedes Jahr vier Wochen lang die Ferienwohnung bewohnten; zu spüren, wie man schon ganz von selbst die Rolle produzierte, die man hier spielte.
Sein Benehmen gegenüber Frau Zürn hatte sich beim ersten Aufenthalt vor elf Jahren gebildet und konnte seitdem als fertig gelten. Sie hielt ihn für heiter, gesprächig, erholungsbedürftig, blumenfreundlich, tierliebend, kindernärrisch, herzensgut …
Er hatte die Urlaubsrolle, die Frau Zürn von ihm erwartete, nicht erfunden. Er hatte lediglich sein Benehmen so eingerichtet, wie es, nach seinem Gefühl, Frau Zürn am liebsten hatte. Was dabei zustande kam, hatte mit ihm angenehm wenig zu tun. Es konnte allerdings sein, daß auch das Lächeln, das Frau Zürn, sobald er und Sabine auftauchten, produzierte, nichts mit ihr zu tun hatte. Um so besser. Ihr Mann hatte in elf Jahren nicht ein einziges längeres Gespräch mit ihm geführt. Mit Sabine schon. Er und dieser Dr. Zürn gingen als zwei ebenbürtige Geheimnisse aneinander vorbei. Zu Sabine hatte er schon gesagt, dieser Dr. Zürn sei ihm sympathischer als alle anderen Menschen. Sahen sie einander nicht sogar ähnlich? Runder Rücken, runder Bauch. Und schwer. Helmut spürte in der ein bißchen zu höflichen Zuvorkommenheit, mit der man von Zürns behandelt wurde, die ihm angenehmste Form von Distanz. Er wollte nicht wissen, was Dr. Zürn für ein Doktor sei; warum die Zürns in einem schönen Haus am Ufer immer noch eine Ferienwohnung vermieteten; so wenig wie die Zürns von ihnen wissen wollten, warum ihnen in elf Jahren nicht endlich einmal ein anderes Urlaubsziel eingefallen sei. Das Schönste an diesem Urlaubsverhältnis war die jährlich wachsende, aber völlig annäherungslose Vertrautheit zueinander. Über die Basis, daß sowohl Dr. Zürn wie auch sie vor elf Jahren einen jungen Spaniel gehabt hatten, waren sie nicht hinausgekommen. Jetzt hatten sowohl Dr. Zürns wie auch sie einen alten Spaniel. Trotzdem konnte er sich niemanden denken, dem er sich vertrauter fühlte als Herrn und Frau Zürn. Zu deren vier Töchtern hatte er allerdings die Distanz wie zur übrigen Menschheit. Ach wär’ man jetzt nur draußen bei Zürns!
Sabine sagte: Du bist doch nicht nervös. Sie sah ihn nicht an, als sie das sagte. Jemand, der sie von fern beobachtete, hätte, nach ihrem Gesichtsausdruck, geschlossen, sie habe zu ihrem Mann gesagt: Mit dir hier zu sitzen, ist sagenhaft schön. Er sagte: Nervös?! Wie kommst du denn darauf? Sie sagte: Hast du Hunger? Hunger, sagte er auf eine ernsthaft romantische Art. Sollen wir gehen, fragte sie. In die Wohnung, sagte er. Nein, zum Essen, sagte sie. Hast du Hunger, fragte er. Wir hätten nach dem Mittagessen nicht soviel Kuchen essen dürfen, sagte sie. Du hast ihn gebacken, sagte er. Ich weiß, sagte sie schuldbewußt. Wenn du ihn wenigstens nicht so gut machen würdest, sagte er dumpf. Eine Rettung gibt’s sowieso nicht, dachte er. Er wußte nicht, warum er das dachte. Rette den Menschen, dachte er. Rett’ ihn doch. Vielleicht ist Sabine imstande, dieses Leute-betrachten zu genießen. Er glaubte das nicht. Dann müßte sie ganz anders sein als er. Ist sie aber nicht. Sie haben auf einander gewirkt. Sie sind einander jetzt unheimlich verwandt. Schau doch ihr Lächeln an. Wahrscheinlich hast du, ohne es zu bemerken, in diesem Augenblick ganz genau das gleiche abschüssige Lächeln im Gesicht. Wer euch so sieht, muß euch für Zwillinge halten. Und in diesem Augenblick sagte Sabine: Ich glaube, wir haben beide schon das Spanielgesicht. Das passierte immer wieder, daß sie etwas aussprach, was wie eine Antwort war auf das, was er gerade dachte. In diesem Augenblick ärgerte es ihn. Halt’s Maul,
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