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Ein fliehendes Pferd

Ein fliehendes Pferd

Titel: Ein fliehendes Pferd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser , Helmuth Kiesel
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Schädelstättenzustand, in dem das Vergangene in ihm existierte, weglügen. Ihn interessierte gerade die Abgestorbenheit des Vergangenen. Klaus Buch erzählte offenbar das Vergangene am liebsten drastisch. Gibt es etwas, was weniger zusammenpaßt als Vergangenes und Drastisches? Bei Klaus Buch rollte es nur so von Tönen, Gerüchen, Geräuschen; das Vergangene wogte und dampfte, als sei es lebendiger als die Gegenwart. Die Erinnernden wurden kleine Männchen, die hmaufzeigten, in den Himmel, wo die Riesen saftig kämpften. Helmut sah nur Fetzen, Löcher, Gebleichtes, Verebbtes, Vernichtetes. Im Grunde tat er seit Jahr und Tag nichts, als sich vorzubereiten auf den Umgang mit dem Vernichteten. Ihn zog nichts so an wie dieses Vernichtete. Irgendwann einmal würde er von morgens bis in die Nacht nur dieses Vernichtete um sich versammeln. Sein Ziel war es, schon die eigene Gegenwart in einen Zustand zu überführen, der der Vernichtetheit des Vergangenen so ähnlich als möglich war. Schon jetzt wollte er vergangen sein. Das war seine Richtung. Es sollte in ihm, um ihn, vor ihm so fetzenhaft sein wie im Vergangenen. Man ist ja viel länger tot als lebendig. Es ist doch grotesk, wie winzig die Gegenwart im Verhältnis zum Vergangenen ist. Und dieses Verhältnis sollte jede Sekunde der Gegenwart gebührend minimalisieren, zerreiben, bis zur Unfühlbarkeit entstellen.
    Klaus Buch und seine Frau aßen nur Steak und Salat, und den Salat aßen sie vor dem Steak. Und sie tranken nur Mineralwasser. Ihr Mineralwassertrinken lobten sie so, als müßten Halms das so rasch als möglich nachmachen. Und wie sie selbst Mineralwasser noch beurteilen konnten! Helmut war schon in dem Café an der Promenade aufgefallen, daß die beiden sich keinen Kaffee bringen ließen. Auch dort hatten sie Mineralwasser getrunken. Aber sie hatten es dort nicht gelobt. Sie machten Helmut und Sabine herzliche Vorwürfe wegen deren bedenkenloser Art zu essen und zu trinken. Es war Hel, die diese Vorwürfe besorgt an Sabine richtete. Helmut und Sabine tranken den schwersten, teuersten Spätburgunder. Helmut trank fünf Viertel davon. Sabine zwei. Er spürte, wie er in einer schönen düsteren Schwere versank. Weit weg von ihm turnte Klaus Buch die Erinnerungen nach und konnte sich kaum auf dem Stuhl halten vor Begeisterung, wenn Helmut aus reiner Höflichkeit soweit ging zu bemerken, das Mädchen mit der Zopfleiste, die Theologiestudentin, von deren Fährte Klaus Buch die Nase ein Semester lang nicht heben konnte, sei aus Worms gewesen. Dadurch erwachte diesem Klaus nämlich ihr Sprachklang bis zur Hörbarkeit. Aber mitten im schönsten Nachhören tat er wieder den Schrei, den er an der Promenade getan hatte; diesmal war der Schrei, weil sie in einer der alten niederen Hecht-Stuben saßen, so furchtbar, daß auch Helmut aufsprang, daß auch Leute an anderen Tischen, in Nebenstuben sogar, aufsprangen. Sabine schlug Otto auf die Schnauze. Klaus Buch war hinausgerannt, um sich die Hände zu waschen. Sabine sagte scheinheilig: Das ist das erste Mal, daß er das macht. Das stimmte zwar, aber offenbar glaubte sie das selbst nicht.
    Als Klaus Buch zurückkam, fand er nicht mehr in die Erinnerungsfeier hinein. Er und Hel schauten eine Zeit lang stumm zu, wie Sabine und Helmut die Käseplatte leerten, Weißbrot aßen, Rotwein tranken. Als Helmut die von Entsetzen geweiteten Augen der Buchs zum dritten Mal durch Aufschauen zur Kenntnis genommen hatte, sagte er, Hels und Klaus’ Zuschauen erinnere ihn an eine Szene aus dem Leben des großen schwedischen Philosophen Emanuel Swedenborg. Der habe, als er schon über fünfzig und ein berühmter Mann gewesen sei, einmal allein in seinem Zimmer in einem Londoner Hotel zu Abend gegessen. Plötzlich habe er in einer Ecke seines Zimmers einen Mann wahrgenommen, der in dem Augenblick zu Swedenborg herübersagte: Iß nicht soviel. Und wie hat der Herr Philosoph reagiert, fragte Hel. Von dieser Stunde an nahm er nur noch eine Semmel in gekochter Milch zu sich. Und viel Kaffee. Den aber unmäßig süß. Na bitte, sagte Hel. Swedenborg, Klaus, bitte, merk dir den Namen, der interessiert mich. Eine Semmel pro Tag oder pro Mahlzeit? Das weiß ich leider nicht, sagte Helmut. Das mindert den Wert des Rezepts erheblich, sagte Hel. Sie schien fast ärgerlich vor Enttäuschung. Alles haben Sie sich gemerkt, sagte sie, den Namen, den Vornamen, den Beruf, die Nationalität, den Ort der Handlung, die Lokalität, die Bestandteile, und dann

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