Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Nachbarhaus aus ihrer Wohnung ausgezogen war, mit unbestimmtem Ziel, aber der Hoffnung auf ein unbehelligteres Leben. Wie beiläufig kontrollierte er, ob Lichter in der Wohnung brannten oder etwas anderes darauf hindeutete, dass sich neue Mieter dort breitmachten. Das war nicht der Fall.
Am Abend darauf, nach unruhig verschlafenen Stunden bei Tageslicht, zog er wieder los, diesmal ausgestattet mit Dietrichen. Er vermied es, über sein Vorhaben nachzudenken, ließ sich vermeintlich treiben, ungewiss, wo er denn landen würde. Dabei wusste er es genau. Nicht weit entfernt vom Nollendorfplatz gab es ein Lokal, in dessen Hinterzimmer sich Männer trafen, deren sexuelle Vorlieben vom NS-Apparat als abartig eingestuft wurden. Es war ihnen per Gesetz verboten, ihren Trieb öffentlich auszuleben. Wer dagegen verstieß, der fand sich schnell in einem Konzentrationslager wieder, wurde erniedrigt und misshandelt und konnte von Glück sagen, wenn er sein Leben behielt. Der Nollendorfplatz war das Zentrum der Homosexuellen in Berlin, und weil die SS die meisten einschlägig bekannten Lokale geschlossen hatte, wich die Szene auf die Umgebung aus. Klammheimlich selbstverständlich und schwierig aufzuspüren selbst für diejenigen, die dort auf ihresgleichen trafen. Hansen wusste von solch einem Ort, und er bändelte dort mit einem jungen Mann an. Franz versprach ihm eine Nacht, die er nie vergessen würde. Seine auffälligen Haare hielt Hansen sorgfältig unter einer Schlägermütze verborgen. Eine Vorsichtsmaßnahme. So würde sich niemand an ihn erinnern – aber er rechnete ohnehin nicht damit, dass jemand das Verschwinden seines Spielgefährten sonderlich interessierte. Ein toter Schwuler war ein Problem weniger.
Nun lag Hansen neben Franz, dessen Leben gerade in denLaken versickerte. Beide waren nackt, beide starrten an die Zimmerdecke, aber nur Hansens Gehirn war dazu in der Lage, aus den Informationen der Netzhaut Bilder zusammenzusetzen. Weil der jüdischen Familie ihr Leben mehr wert war als ihr Mobiliar, hatte sie das meiste zurückgelassen. So tummelte sich Hansen mit Franz bequem im Ehebett, bevor er sich hinabbeugte zu seiner hastig abgeworfenen Jacke, das Messer herausfischte und seine ahnungslose Zufallsbekanntschaft erstach. Vor der Wut, mit der er die Klinge in den fremden Körper trieb, erschrak er selbst, so sehr diktierte sie sein Handeln. Etwas in ihm entzog sich seiner Kontrolle. Er musste allmählich lernen, gegenzusteuern.
Hansen rollte sich zur Seite und erhob sich, inspizierte seine Hände, seine Brust. Alles war voller Blut. Ohne einen Blick an Franz zu verschwenden, spazierte er ins Bad. In der Badewanne schrubbte er sich sorgfältig ab, genoss das heiße Wasser auf seiner Haut. Er spürte, wie sich eine dunkle Masse in ihm ausbreitete, ihm den Atem zu rauben drohte, drehte das Wasser ab, japste nach Luft. Nach einem Moment war es wieder vorbei. Eine Angstattacke. Es geht alles zu schnell, dachte er. Du darfst dich nicht verzetteln, musst mehr auf dich aufpassen. Hansen stieg aus der Wanne, musterte sich im Spiegel. An ihm war kein Gramm Fett zu viel, jeder Muskel zeichnete sich ab, wie auf den Bildern eines anatomischen Lehrbuchs. Franz hatte beim Anblick von Hansens Körper lustvoll gestöhnt, die langen Haare fand er wunderbar exotisch. Jetzt klebten sie klatschnass auf Hansens Schultern. Aber er selbst betrachtete sich nicht mit Wohlgefallen, sondern suchte in seinem Spiegelbild nach Antworten. Mit der Rechten strich er über den Jaguarzahn, den Aocapoto ihm geschenkt hatte. Sein Glücksbringer und Beschützer. Oder wohnte darin ein Dämon, der sich seiner bemächtigt hatte und ihn zu diesen monströsen Taten trieb? Hansen spielte mit dem Amulett, überlegte eineSekunde, ob er es ablegen sollte. Sei kein Narr, sagte er sich. Das ist nur ein Zahn, ein Talisman. Das Böse steckt in dir, und du musst lernen, damit zu leben. Aber das beherrschst du ja ganz gut.
Er trocknete sich ab, klaubte im Schlafzimmer seine Sachen zusammen, stopfte seine Haare sorgfältig unter die Schlägermütze und zog sie tief ins Gesicht. Bevor er die Wohnung verließ, warf er einen letzten Blick auf sein Opfer. Das Bett war blutdurchtränkt, Franz lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken, die offenen Augen ins Nirgendwo gerichtet. Hansen fühlte keinerlei Reue, genoss sogar die Vorstellung, dass andere sein Werk sehen würden und es vielleicht nie mehr vergessen konnten. Welchen Künstlern war das schon vergönnt?
Bei
Weitere Kostenlose Bücher