Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Tagesanbruch verschwand er unbemerkt aus der Wohnung und ruhte bereits zehn Minuten später auf seinem eigenen Kissen. Nur drei Stunden später wurde er vom Klingeln des Telefons geweckt. Es war Görings Sekretär, der direkt durchstellte.
»Mein lieber Hansen«, dröhnte die Stimme des Reichsfeldmarschalls gut gelaunt durch den Hörer. »Heute geht’s für Sie um die Wurst. Ich möchte, dass Sie in einer Stunde bei mir im Büro antreten. Wir werden Sie neu einkleiden und danach mit dem Reichsführer-SS plaudern. Das wird kein Spaziergang, das kann ich Ihnen versprechen. Wenn Sie mich blamieren, werfe ich Sie meinen Löwen zum Fraß vor.« Er lachte höhnisch. »Außerdem habe ich noch eine andere Sache, die ich dringend mit Ihnen besprechen muss. Also, in einer Stunde, und zwar pünktlich!«
Hansen erhielt keine Gelegenheit, auch nur ein Wort zu erwidern. Er sprang aus dem Bett, sah auf die Uhr. Eine Stunde. Um zehn Uhr musste er im Reichsluftfahrtministerium an der Wilhelmstraße sein. Während er sich fertigmachte, dachte er über Görings Stimmung nach. Irgendetwas musste vorgefallensein. Vor zwei Tagen war der Reichsfeldmarschall missmutig gewesen, hatte darüber geklagt, dass ihn seine eigenen Leute ins Verderben rissen. Hansen wusste nur, dass ein Kurier mit geheimen Dokumenten über feindlichem Gebiet abgestürzt war. Offensichtlich hatte sich das Problem geklärt. Umso besser für ihn. Mit einem schlecht aufgelegten Göring war es schwieriger, Geschäfte zu machen. Noch eine andere Sache beschäftigte Hansen. Was wollte Göring Dringendes mit ihm besprechen? Hatte er es sich anders überlegt? Aber warum wollte er ihn dann neu einkleiden? Je länger Hansen über Görings Worte nachdachte, desto undurchschaubarer erschienen sie ihm. Es half nichts, er würde die Antworten auf seine Fragen erst bei ihrem Treffen erhalten.
Vor dem Haus schnappte sich Hansen ein Taxi und war fünfzehn Minuten zu früh an der Wilhelmstraße. Um nicht übermotiviert zu wirken, lief er die Straße auf und ab, bevor er das Gebäude betrat. Soldaten sicherten den Eingang. Hansen meldete sich an der Pforte und durfte passieren. Drei Minuten später stand er im Vorzimmer von Görings Büro. Der Reichsfeldmarschall bekleidete unter anderem auch das Amt des Luftfahrtministers; über seine Ämterfülle kursierten im Volk viele Witze. Hansen fiel nur der ein, in dem Göring seiner Haushälterin sagt, dass er mal eben in den Keller geht, um Holz zu holen, und sie darum bittet, ihm seine Uniform als Reichsknappenführer und die Reichsforstleiterabzeichen zu bringen. Es hieß, dass Göring gerne Witze über sich hörte und sogar mitlachte. Nur seine Frau durfte niemand veräppeln, da verstand er keinen Spaß. Hansen nannte seinen Namen.
»Sie werden erwartet«, sagte der Sekretär. »Der Minister bittet darum, dass Sie sich vorher umziehen. Ich begleite Sie nach nebenan ins Ankleidezimmer.«
Hansen folgte dem Sekretär aus dem Büro in einen Raum auf der anderen Seite des Ganges. Er war geräumig, mit Schränkenan beiden Wänden, einem dunkelbraunen Ledersofa und einem mannshohen Spiegel eingerichtet. Hinter einer halboffenen Schiebetür entdeckte Hansen eine Reihe von Anzügen, fein säuberlich auf einer Stange aufgereiht. Dass der Reichsfeldmarschall den Hang hatte, sich herauszuputzen, war kein Geheimnis. Hansen mochte sich kaum vorstellen, wie viele Anzüge Göring zu Hause hortete. Der Sekretär wies auf eine bereitgehängte SS-Uniform.
»Der Minister hat Ihre Konfektionsgröße nach Augenmaß bestimmt. Aber ich kann Sie beruhigen, er irrt sich selten. Und wenn doch, sollten Sie das nicht unbedingt betonen.«
Hansen zog sich um. Die Uniform saß tadellos. Er posierte vor dem Spiegel. Bis auf die zu langen Haare sah er wie ein Offizier aus. Endlich war er auf dem Weg nach oben. Fünf Minuten später befand er sich wieder in Görings Vorzimmer.
»Gehen Sie durch«, sagte der Sekretär.
Hansen klopfte und trat ein. Das Büro war riesig, mit einer großen Fensterfläche, einem übertrieben wuchtigen Schreibtisch und einer separaten Sitzecke für Besprechungen. Göring thronte hinter dem Schreibtisch in einem feudalen Ledersessel und winkte ihn heran.
»Heil Hitler, Obersturmführer Hansen«, sagte er. Hansen salutierte. Der Reichsfeldmarschall deutete auf einen der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch.
»Nehmen Sie Platz. Wir müssen dringend ein paar Dinge besprechen. In wenigen Minuten wird der Reichsführer-SS hier
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