Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Ankunft in Berlin war er die halbe Nacht durch die Stadt geirrt, unfähig, zur Ruhe zu kommen. Unablässig spukten die Ereignisse auf der Burg durch seinen Kopf. Erst das Debakel mit dem Überfall. Dass es überhaupt jemand gewagt hatte, die Burg des Reichsfeldmarschalls anzugreifen, war schier unglaublich. Dass dieses Husarenstück auch noch gelungen war, empfand Hansen gar als persönlichen Affront. Zum Glück war er es gewesen, der einen totalen Triumph der Eindringlinge verhindert, zwei Männer und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch Oda getötet hatte. Ohnesein Eingreifen wäre die Bande garantiert unverletzt entkommen und das Fiasko komplett gewesen.
Trotzdem fühlte Hansen sich betrogen. Er hätte Göring gerne die Wirksamkeit seiner Tinkturen demonstriert, ihre verblüffende Macht, den menschlichen Willen auszuhebeln. Augenschein war die beste Visitenkarte und durch Worte nicht zu ersetzen. Dieser Krauss hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Vom ersten Eindruck an war Hansen klar gewesen, dass er den Mann nicht unterschätzen durfte. Krauss hatte sofort auf ihn geschossen, obwohl sie sich nie begegnet waren. Instinkt. Er wusste es. Genauso wie Hansen es wusste. Sie waren Artverwandte. Göring hatte dem Fremden später einen Namen gegeben: Krauss. Zu dem Mann gehörte natürlich eine Geschichte. Krauss war ein ehemaliger »Sohn Odins« und hatte seinen Bruder getötet. Für Hansen vervollständigte sich damit das Bild. Im Dorf, auf dem Marktplatz, hatte Hansen sich entschieden, mit seinem Pfeil Oda statt Krauss zu verletzen, damit sie ihr Geheimnis nicht preisgab. Nach seinem jetzigen Erkenntnisstand war das vielleicht ein Fehler gewesen.
Zum Glück hatte Oda ihm in der Nacht zuvor alles erzählt, unfreiwillig natürlich. Aber er war erleichtert, dass seine Drogen wirkten. Unter ihrem Einfluss brach Odas Wille zusammen, und er konnte sie nach Belieben steuern. Was er dabei zutage förderte, raubte ihm fast den Atem. Denn Göring hatte ihm ein entscheidendes Detail vorenthalten – dass es sich bei dem Jungen, dessen Aufenthaltsort er in Erfahrung bringen sollte, um Hitlers Sohn handelte. Hansen war sofort klar gewesen, warum der Feldmarschall einen solchen Aufwand betrieb, um Oda Informationen zu entlocken. Mit Hitlers Sohn würde Göring sich die Gunst des Führers sichern, war er für alle Zeiten unangreifbar. Oder hatte er anderes mit dem Jungen vor, wollte er eine Hitler-Dynastie verhindern? Hansenbegriff, dass ihm seinerseits die einmalige Chance ermöglicht wurde, seine eigenen Interessen durchzusetzen. Er durfte seine Karten nicht auf den Tisch legen, er musste pokern, dabei aber Göring eine gewisse Handlungsfreiheit lassen. Wenn er ihn unter Druck setzte, war das gefährlich. Also entschied er, einerseits den Reichsfeldmarschall nur bedingt an seinem Wissensvorsprung teilhaben zu lassen, ihm andererseits aber getreue Folgschaft und die Erfüllung seiner Wünsche zu signalisieren. Ein Vabanquespiel, vielleicht, aber auch eine unwiderstehliche Gelegenheit.
Göring war auf das Spiel eingegangen, hatte ihm einen Posten bei der Gestapo angeboten und wollte ihn in die SS aufnehmen. Zwar konnte Hansen nicht viel mit den »Söhnen Odins« verbinden, aber für den Anfang hörte es sich nicht schlecht an. Natürlich war das nur ein Sprungbrett, nichts von Dauer. Hansen wollte deutlich mehr Macht als über eine einzelne Abteilung, er fühlte sich zu Größerem berufen. Statthalter in den Guyanas, das war etwas, das spukte hartnäckig durch seinen Kopf. Da konnte er schalten und walten, wie er wollte, weit weg von Deutschland. Es würde seine Aufgabe sein, diese Idee in die Köpfe der Nazi-Führer zu pflanzen. Aber vorher musste er seine Fähigkeiten beweisen. Seinetwegen auch als Chef der »Söhne Odins«.
Zurück in Berlin, lief er fast die ganze Nacht durch die Stadt. Eine innere Unruhe hatte ihn erfasst, die Sorge, dem allen nicht gewachsen zu sein. Seit der Jary-Expedition war er nicht mehr eingebunden gewesen in eine Gruppe, und bereits damals hatte es ihm Probleme bereitet, seinen Platz im sozialen Gefüge zu finden. Aber er war längst nicht mehr der Mensch von früher, beruhigte Hansen sich, sondern gereift, selbstbewusst, stark. Trotzdem peinigte ihn die Angst, von den »Söhnen Odins« nicht akzeptiert zu werden. Er musste sich abreagieren, seine überschüssige Energie kanalisieren. Voreinigen Tagen hatte er zufällig mitbekommen, dass eine jüdische Familie in einem
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