Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
setzte.
Damals hatte die Euphorie Göring genau diese Worte in den Mund gelegt, als er zu dem Fackelmeer zu seinen Füßen sprach. Beharrlichkeit. Wiederauferstehung. Deutsche Nation. Er erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. In dieser Nacht hatte ihn ein Rausch erfasst wie niemals zuvor und danach in seinem Leben. Er hörte die Trommeln nicht nur, ihr Rhythmus pulsierte in seinem Blut, untermalt von den himmlischen Fanfaren des Jüngsten Gerichts. Nur dass sie diejenigen waren, die alle Nichtgläubigen zum Teufel schickten. Diejenigen, die nicht an ihre heilige Sache glaubten. Den Siegeszug des Nationalsozialismus. Ja, er konnte nicht anders, er musste auf biblische Vergleiche ausweichen, um die Größe dieses Tages, dieser Stunden zu beschreiben. Dieser Tag, dieses Ereignis war nicht von dieser Welt, es war überirdisch; er und Millionen andere Menschen spürten den Hauch der Geschichte. Genau wie das unsichtbare Band zwischen ihm und Adolf Hitler. Göring hatte sich ihm unwahrscheinlich nahe gefühlt, sie waren gemeinsam einen schweren Weg gegangen und hatten gesiegt. Niemand konnte sie auseinanderdividieren, sie waren die Gesichter einer neuen Zeit. Er hatte es gefühlt, tief in seinem Herzen. Hitler brauchte ihn, Göring vervollständigte sein Wesen. Trotz der Wärme, die der Kamin abstrahlte, erschauerte der Reichsfeldmarschall angenehm bei dem Gedanken an die Vergangenheit. Warum nur ließen sich Schönheit, Glück und Vertrauen nicht festhalten, warum machten Neid und Gier alles zunichte? Warum war das Band zwischen dem Führer und ihm so brüchig geworden?
Immer tiefer versank Göring in seinen Grübeleien, vergaß alles um sich herum. Wie oft war er buchstäblich durchs Feuer gegangen? Unzählige Male. Der große Krieg hatte ihn,den himmelstürmenden, heldenhaften Piloten, ausgezeichnet mit dem Tapferkeitsorden Pour le Mérite, unversehrt gelassen, und er war aus der Asche der Schande auferstanden zu imposanter Größe. Das Feuer war sein Freund, war ihm zu Diensten. Nur wenige Wochen nach dem Fackelzug hatte es den Reichstag in seinen unerbittlichen Fingern, und Göring, der neue Präsident des Hauses, war aufgeregt durch die Gänge gerannt, um die kostbaren Gobelins zu retten. Was kümmerte ihn dieses seelenlose Gebäude?
Die Kaminhitze brachte seine Gesichtshaut zum Glühen und gemahnte ihn an die dramatischen Minuten von einst, in denen er in den Sitzungssaal des Reichstags stürmte. Hoch über ihm explodierte die Glaskuppel mit einem infernalischen Knall, die Scherben krachten auf das Mobiliar und hätten während einer Sitzung wohl viele Menschen durchbohrt. Göring hatte damals blitzartig die Arme vors Gesicht gerissen und war erschrocken zurückgesprungen. Das hatte ihm das Leben gerettet. Der Saal sah aus, als wären die apokalyptischen Reiter hindurchgeprescht und hätten ihn in ein Schlachtfeld verwandelt. Ein paar Minuten später war er Hitler und Goebbels gegenübergetreten, stolz auf seinen Mut, seine Entschlusskraft und nicht zuletzt seine trotz des Übergewichts robuste Physis, mit der er sich durch Flammen und Trümmer wühlte.
Doch die Genugtuung währte nicht lang. Denn während Göring nur schwachsinnige Brandstifter am Werk wähnte, nutzte Hitler die historische Chance, mit den Kommunisten abzurechnen. Vielleicht hatte es damals angefangen, hatte sich damals bereits ein Riss aufgetan zwischen ihm und dem Führer, dachte Göring jetzt, weil Hitler stets berechnete, wie er die Dinge zu seinen Gunsten wenden konnte. Göring stattdessen lebte von der Aura des Augenblicks. Er war ein Genießer, egal, ob es um ein gutes Essen oder einen guten Kampf ging. Hitlersah das große Ganze. Deshalb verachtete er Göring. So zumindest legte der Reichsfeldmarschall es sich zurecht.
Was hatte er mittlerweile nicht alles für Demütigungen ertragen müssen von dem Mann, den er von Beginn dessen Weges begleitete und unterstützte. Ihre Beziehung war ein ständiges Auf und Ab, geprägt nicht von Vertrauen, sondern von Abhängigkeiten. Göring wagte sich kaum vorzustellen, wie Hitler mit ihm umspringen würde, wenn der Reichsfeldmarschall nicht diesen Rückhalt im Volk und bei seinen Soldaten hätte. Beinahe andächtig lauschte er dem Feuer, das tatsächlich zu ihm zu sprechen schien. Könnte er die Botschaft doch nur verstehen.
Göring beugte sich ein wenig vor, um die Stimmen besser wahrnehmen zu können. Unmerklich überschritt er die Grenze bewussten Erinnerns, trat ein ins Reich der
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