Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Wehrmacht mittlerweile in Holland, Belgien und Frankreich einmarschiert. Hitler machte seine Drohungen wahr, und keiner hielt ihn auf. Krauss hatte sich vorgenommen, das zu ändern, sobald diese Sache hier erledigt war. Es musste einen Weg geben, um diesem Geisteskranken das Handwerk zu legen. Diesen Weg zu finden, würde seine Aufgabe sein. In den letzten Wochen hatte er viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Und darüber, warum ausgerechnet er noch lebte. Wahrscheinlich war es einfach ein dummer Zufall, so wie alles im Leben. Aber es blieb ein Quäntchen Unsicherheit, dass ihm in diesem Spiel eine besondere Rolle zugedacht war. Normalerweise hätte Krauss das weit von sich gewiesen. Aber für den Fall, dass es wirklich so war, hatte er sich der Einfachheit halber vorgenommen, es zu glauben.
Nicht weit entfernt brüllten Affen. In den Baumkronen raschelte es wild, Äste knackten. Ihm unbekannte Vögel pfiffen zuvor nie gehörte Laute, ab und zu krächzte ein Papagei. Über allem lag das auf- und abschwellende Konzert der Zikaden.Der Dschungel schlief nie, das war Krauss nach der ersten Nacht klargeworden. Diese Welt hier existierte völlig unberührt von dem Krieg, der in Europa herrschte, und das galt gleichermaßen für Mensch und Tier. Das war für Krauss eine wichtige Erkenntnis: Dass es außerhalb der ihm bekannten Welt noch viele andere Welten gab, die nicht infiziert waren vom deutschen Wahnsinn, obwohl sie alle gleichzeitig existierten. Wen kümmerte hier der Machtanspruch der deutschen Herrenrasse? Die Indianer hatten nicht einmal etwas von Deutschland gehört. Und diese Wissenslücke hatte keinerlei Auswirkungen auf ihr Leben. Für Krauss war das so wie im Theater: In einer anderen Rolle sah man die Dinge auch aus einer anderen Perspektive. Wenn man beispielsweise den Maßstab änderte und Hitler mit den Augen der Welt betrachtete, war er nur ein kleiner Wicht. Das beruhigte Krauss, das rüttelte die Verhältnisse zurecht. Natürlich war Hitler gefährlich, wahrscheinlich sogar ein Monster, aber er war auf keinen Fall unbesiegbar. Mit diesen Gedanken schlief Krauss ein.
In den nächsten Tagen verfestigten sich die Abläufe weiter, jeder wusste genau, was er zu tun hatte. Wenn sie lagerten, war Krauss dafür zuständig, trockenes Holz zu sammeln für ein Feuer. Winnetou ging auf die Jagd. Der Indianer bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit, balancierte elegant über Felsen im Fluss und kehrte nie ohne Beute zurück, meist waren es mit Pfeil und Bogen erlegte Fische. Krauss blieb das ein ungelöstes Rätsel, das den Umstand, ohne die Indios in dieser Wildnis hilflos zu sein, noch unumstößlicher machte als zu Beginn der Reise. Abends am Feuer rauchte Winnetou ein stinkendes Kraut aus einem Pfeifchen und erzählte eine Geschichte in seiner Sprache. Krauss verstand kein Wort, aber wenn Okube kicherte, lachte er mit, signalisierte seine Zugehörigkeit. Sie waren drei Männer, die den Fluss hinauffuhren, nicht mehr und nicht weniger.
Krauss merkte, wie er Tag für Tag ruhiger wurde. Odas Tod erschien ihm entrückt, wie in einem anderen Leben geschehen. Aber Hansen war mindestens genauso weit entfernt. Krauss befand sich in einer Art Zwischenwelt, in der nur die unmittelbaren Bedürfnisse und Anforderungen zählten. Rudern, essen, schlafen. Und immer so weiter. Bis Winnetou mitten am Tag einen Uferstreifen ansteuerte, der für Krauss’ Augen so aussah wie jeder andere an diesem niemals endenden Fluss. Doch die Indianer hatten Spuren eines Lagers entdeckt. Sie waren offensichtlich frisch und Hansens Vorsprung nicht groß.
»Wie lange noch?«, fragte Krauss. Winnetou schüttelte den Kopf. Noch lange, interpretierte Krauss. Fast war er froh. So musste er sich nicht damit auseinandersetzen, konnte sich dem Vorwärtskommen widmen, dem Wechsel von Tag und Nacht, Essen und Rudern, Schlaf und Erschöpfung. Allmählich verlor Krauss jedes Zeitgefühl, wusste weder Tag noch Stunde zu benennen. Als Winnetou ihm eines Abends ernst zunickte und ihn mit »Schlafe, Hansen« zur Bettruhe verabschiedete, erschien es Krauss fast übereilt. Deutete er die Worte doch dahingehend, dass sie ihr Ziel am nächsten Tag erreichen würden. Krauss lag die Nacht über wach, herausgerissen aus dem ewigen Stemmen gegen den Strom, und dachte darüber nach, was zu tun war. Er drehte sich im Kreis. Natürlich musste Hansen sterben. Viel wichtiger aber war, dass der Junge lebte. Davor hatte Krauss die größte Angst – dass Hansen
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