Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
dachte, der wie ein Pingpongball zwischen den Nationen hinund herhüpfte, ohne je wirklich erhört zu werden. Gut, Göring wollte seine eigenen Motive nicht vor sich selbst schönreden; es war ihm nie daran gelegen gewesen, Großbritannien aus reiner Nächstenliebe zu schonen. Er hielt das deutsche Unterfangen nur für aussichtsreicher, wenn England nicht darin verwickelt wurde. Die Briten waren ein tapferes Volk, sie hatten sich über Jahrhunderte in der Welt behauptet und verfügten über großen Einfluss. So eine Nation hatte man nicht gerne zum Feind.
Aber es war nun mal anders gekommen. Vor fast genaueinem Jahr hatte Chamberlain dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, und bis vor wenigen Wochen beschränkte sich der Konflikt zwischen den beiden Ländern im Wesentlichen auf kleinere Scharmützel. Seit dem Sommer aber hatte sich die Auseinandersetzung verschärft. Selbstverständlich waren die Deutschen daran nicht ganz unschuldig. Hitler hatte die »Operation Seelöwe« ausgerufen – die Schlacht um England. Bomberangriffe sollten die Briten zermürben und eine Landung deutscher Truppen vorbereiten. Freilich handelte es sich bei dem »Seelöwen« um ein zahnloses Raubtier; denn Hitler hatte noch nicht die Absicht, die britische Insel zu erobern. Die Aktion war ein Scheinmanöver, basierend auf der Annahme, die demoralisierten Engländer durch die Bombardements an den Verhandlungstisch zu zwingen. Während Görings Flieger mit befohlener Zurückhaltung militärische Ziele angriffen, versuchte Hitler, auf geheimdiplomatischem Wege die britische Führungsspitze zu kontaktieren. Ohne Erfolg. Stattdessen schlug Churchill zurück und schickte Bombergeschwader nach Berlin. Göring nahm das persönlich. Er hatte dem deutschen Volk versprochen, dass kein feindlicher Flieger je die deutsche Hauptstadt attackieren würde. Andernfalls würde er Meier heißen und einen Besen fressen. Hintenrum, so hatte er es verlauten gehört, nannten ihn die Berliner bereits Besenmeier.
Göring setzte alles daran, die feindlichen Angriffe zu vergelten. Ziel war es, der britischen Luftflotte schmerzhafte Verluste beizubringen – allerdings, so Hitlers Bedingung, ohne Zivilisten in Mitleidenschaft zu ziehen. Daher verlagerte Göring seine Strategie auf den Luftkampf, seine Jäger gegen die der Engländer, und nannte das Unternehmen »Adlertag«. Nur dass den deutschen Adlern die Flügel schnell gestutzt wurden. Feldmarschall Milch meldete hohe Verluste, die englischen Maschinen waren kampfstark, die Piloten zu allem entschlosseneTeufelskerle. Göring wurmte das, stellte es doch seine Autorität als Feldherr in Frage. Das wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Gerade jetzt. Nach dem erfolgreichen Frankreich-Feldzug hatte Hitler ihn zum Reichsfeldmarschall ernannt und ihm damit praktisch die Oberhoheit über den gesamten deutschen Kriegsapparat übergeben. Damit fühlte Göring sich nun als der mächtigste Soldat der Welt. Und der sollte sich ein paar britischen Heißspornen geschlagen geben? Niemals.
Deshalb mischte sich an diesem Spätnachmittag auf Cap Blanc-Nez ein gutes Stück Genugtuung unter seine allgemeine Skepsis. Churchill sollte eine Lektion bekommen, lernen, dass er sich nicht ungestraft mit dem Deutschen Reich anlegte. Oder dessen obersten Feldherrn der Lächerlichkeit preisgab. Heute würde dieser kaltschnäuzige Zwerg bluten müssen. Beim letzten englischen Bomberangriff auf Berlin waren acht Menschen gestorben. Das und die anhaltende Weigerung der Briten, Kompromisse mit der deutschen Führung auszuhandeln, hatten bei Hitler dazu geführt, seine anfängliche Zurückhaltung aufzugeben. Göring durfte endlich frei schalten und walten. London war zum Abschuss freigegeben.
Der Reichsfeldmarschall sog die salzige Seeluft tief ein. Ein Teil von ihm bedauerte es, diese geschichtsträchtige Metropole in Trümmer legen zu müssen. Wenn er nur an die Kunstschätze dachte, die dort lagerten. Was für eine Verschwendung. Er horchte. War das hinter ihm ein Brausen, wie von Propellerturbinen? Nein. Es brauste nur in seinen Ohren. Göring sah genervt zu Kesselring. Der zuckte mit den Schultern. Sie warteten jetzt bestimmt eine halbe Stunde. Vergeudete Zeit. Künftig würde er besser damit haushalten, nahm sich Göring vor. Hitler hatte erneut im kleineren Kreis verlauten lassen, dass er nicht vorhabe, sich an den Pakt mit Russland zu halten. Die Bolschewiken waren bereits viel zu nah an die Grenzen desDeutschen Reiches vorgestoßen.
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