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Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)

Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)

Titel: Ein fremder Feind: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Isringhaus
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hatte ihm eine Krücke besorgt, außerdem eine Garnitur seiner Kleidung, Hemd und Hose. Weinberg war nur ein paar Zentimeter größer und hagerer, Krauss hatte aber deutlich abgenommen, so dass ihm die Sachen annähernd passten. Zuerst suchte sein Gastgeber die Küche auf, wo seine Frau und seine Tochter gerade den Tisch deckten. Hannah lief freudestrahlend auf Krauss zu und sprang vor ihm herum.
    »Richard isst mit uns am Tisch«, juchzte sie. Krauss lachte, strich ihr über die Haare. Hannah und er waren in den vergangenen zwei Wochen Freunde geworden. Sie hatte ihm alle ihre Lieblingspuppen angeschleppt und ausführlich vorgestellt, außerdem spielten sie ausdauernd Mau-Mau und Schiffe versenken. Krauss genoss ihre vorwitzige, manchmal neunmalkluge Art; ohne Hannah hätte er nicht so schnell ins Leben zurückgefunden.
    »Beruhige dich«, ermahnte Weinberg seine Tochter. »Ich führe unseren Gast noch ein wenig herum, und du hilfst solange deiner Mutter.«
    Hannah zog eine beleidigte Grimasse. Krauss zwinkerte ihr zu und folgte dem Arzt in den Flur. Die Wohnung war mit erlesenen dunklen Möbeln eingerichtet, in jedem Raum lagen teure Läufer. Weinberg hatte gut verdient, das war deutlich zu sehen. Er zeigte Krauss den Wohnraum, die teilweise leerstehenden Kinderzimmer, ein kleines Büro, alles nur knapp kommentierend. Vom Eingangsbereich führte ein weiterer Flur ineine Nachbarwohnung. Weinberg erklärte Krauss, dass sie die gesamte Etage des Gebäudes verbunden und in der zweiten Wohnung die Praxis untergebracht hatten. Es gab ein Warteund zwei Behandlungszimmer mit Liegen und diversen Medizinschränken, deren Vitrinen für Krauss ziemlich leer wirkten. Dennoch beeindruckte ihn Weinbergs Reich. Der Mann hatte sich mit seinen Fähigkeiten ein bemerkenswertes Leben aufgebaut, das unter den Nationalsozialisten nichts mehr gelten sollte. Schweigend gingen sie zurück in die Küche. Weinbergs Frau Inge tischte gerade das Essen auf, Fischsuppe. Krauss setzte sich.
    »Ich hätte Ihnen gerne ein Stück Fleisch gebraten«, sagte sie. »Aber die koscheren Metzgereien wurden in den vergangenen Wochen alle geschlossen. Ich hoffe, Sie mögen Fisch.«
    »Das ist wunderbar«, antwortete Krauss.
    »Isst Richard jetzt jeden Tag mit uns?«, fragte Hannah mit vollem Mund.
    »Hannah!«, ermahnte sie ihr Vater. »Habe ich dir nicht etwas gesagt? Unser Gast ist ein Geheimnis. Wenn du es überall herausposaunst, können schlimme Dinge passieren. Das willst du doch nicht, oder?«
    Hannah schüttelte stumm den Kopf. Sie war den Tränen nahe. Ihre Mutter streichelte ihr sanft über die Schulter.
    »Lass sie nur, Samuel. Sie freut sich doch so.«
    Krauss hatte ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, was diese Familie riskierte, indem sie ihn aufnahm. Er mochte es sich nicht ausmalen.
    »Ich bin froh, dass ich mit Ihnen essen darf«, sagte er. »Es ist lange her, dass ich mit anderen Menschen an einem Tisch saß.«
    »Wir freuen uns auch. Aber bitte, greifen Sie zu«, sagte Inge Weinberg. Hannah nickte eifrig.
    Sie aßen schweigend. Krauss schmeckte es köstlich. Es schienihm, als entdecke er das Essen neu für sich, als habe der Kummer der vergangenen Jahre das Aroma aus den Speisen gewaschen. Nun war es mit einem Mal wieder da, und er spürte plötzlich eine Lust beim Essen, die er so nicht kannte. Je mehr er aß, desto hungriger wurde er. Hannah kiekste plötzlich albern in die Stille hinein.
    »Du isst viel zu schnell«, sagte sie. »Davon bekommst du Bauchschmerzen.«
    Krauss sah sie erstaunt an, die volle Gabel in der Hand. Weinberg lachte, zuckte mit den Achseln.
    »Sie ist eben sehr direkt, meine freche Tochter.«
    »Schon gut. Sie hat ja recht. Aber es schmeckt phantastisch. Und da ist noch viel Platz.« Krauss zeigte auf seinen Bauch. Hannah strahlte ihn an. Sie hatte ihn offensichtlich in ihr Herz geschlossen, und er wusste nicht, warum. Ihn, einen Mörder. Einen Verlorenen.
    Nachdem sie ihren Teller leer gegessen hatte, sprang Hannah sofort auf. Sie habe noch etwas Wichtiges zu erledigen, sagte sie und verschwand. Weinberg schüttelte wortlos den Kopf. Als seine Frau begann, den Tisch abzuräumen, stand er auf, um ihr zu helfen. Auch Krauss wollte sich erheben.
    »Sie bleiben sitzen«, sagte seine Gastgeberin, keinen Widerspruch duldend. So musste er tatenlos zusehen. Es war ein schönes, klassisches Bild, dachte er. Die Familie isst gemeinsam und räumt die Reste weg. Ein Klischee und vielleicht deshalb so herzerwärmend.

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