Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
ein Geschenk für dich.«
Krauss ließ sich zurück auf den Stuhl fallen. Weinbergs Tochter überreichte ihm etwas, das sie in bunt bemaltes Zeitungspapier eingewickelt hatte. Vorsichtig packte Krauss es aus. Zum Vorschein kam eine Metallscheibe, vielleicht sechs, sieben Zentimeter im Durchmesser, durch die am Rand ein Loch gestanzt war. Krauss nahm an, dass es sich um den Rohling einer Unterlegscheibe handelte. Durch das Loch hatte Hannah eine Kordel gefädelt.
»Gefällt’s dir?«, fragte sie.
Krauss betrachtete die Scheibe genauer. Auf eine Seite hatte Hannah mit einem spitzen Gegenstand einen Davidstern eingekratzt, auf der anderen Seite erkannte er unbeholfene Strichmännchen, die sich an den Händen hielten. Krauss wusstenicht, was er sagen sollte. Zum ersten Mal seit Jahren war er gerührt.
»Es ist schön. Vielen Dank.«
»Das sind wir. Und der Stern soll dich vor deinen Feinden schützen, wie er auch David beschützt hat. Du hast viele Feinde, hat Papa gesagt. Deshalb musst du dich bei uns verstecken. Jetzt, wo du wieder rausdarfst, habe ich dir den Schutz gebastelt.« Hannah sah ihn ernst an. »Du musst ihn umhängen.«
Krauss zog sich die Kordel über den Kopf und öffnete das Hemd. Der Anhänger lag tief auf seiner knochigen Brust.
»Passt«, sagte er und lachte Hannah an. Sie drehte die Scheibe so, dass der Davidstern nach außen zeigte.
»So musst du ihn tragen«, ordnete sie mit strenger Stimme an. »Dann hast du vor deinen Feinden nichts zu befürchten.«
11.
B RASILIEN
24. Januar 1937
Dorf der Wayapi
Hansen rannte durch den Busch, lief um sein Leben. Sein jämmerliches, vergeudetes Leben. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, Dornen rissen seine Arme auf. Diesmal war es kein Drogenrausch, sondern die Wirklichkeit; die Zukunft hatte ihn eingeholt. Er keuchte schwer, die Luft stach bei jedem Atemzug in seinen Lungen. Nicht mehr lange, und er würde aufgeben müssen. Hinter sich hörte er seine Verfolger, hörte ihre heiseren Rufe, hörte, wie sie sich genauso wie er einen Pfad brachen durchs dichte Gestrüpp. Warum rannte er überhaupt weg? Sie würden ihn ohnehin erwischen, er konnte ihnen nicht entkommen. Dies war ihr Land, ihr Territorium. Sie jagten, kämpften und töteten hier seit Anbeginn der Zeit. Was wollte er ihnen entgegensetzen? Es war sinnlos. Hansen lehnte sich an einen Baum, beugte sich vor, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Magensäure stieg seine Speiseröhre hoch, er würgte, schluckte die bittere Flüssigkeit wieder hinunter. Verdammt, verdammt, verdammt. Er hätte es kommen sehen, sich beherrschen müssen. Aber es war aus ihm herausgebrochen wie ein unkontrollierbares Tier. Ja, er hätte es verflucht noch mal wissen müssen. Jetzt war es zu spät.
Hansen raste durch seine Erinnerungen, als könne er irgendwo den Moment finden, in dem alles aus dem Ruder gelaufen war. Erst der Jaguar, später die Anakonda, dann Kahles entzündeter Blinddarm, schließlich der Verlust der Boote, der Aufbruch zu den Wayana und Wayapi gegen den Willender Aparai. Er schüttelte den Kopf. Auch dieses verzweifelte Grübeln war so sinnlos wie alles andere in den vergangenen Monaten. Hansen musste sich der Wahrheit stellen. Seit sie den Dschungel betreten hatten, verfolgte sie das Unheil so unerbittlich wie ein Schatten. Der Deutsche umklammerte sein Amulett, drückte sich den Reißzahn des Jaguars in die Hand, bis sie blutete. »Lass mich nicht im Stich«, flehte er.
Hansen lauschte angestrengt, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Die Geräuschkulisse hinter ihm hatte sich verändert, die Rufe der Männer schienen sich zu entfernen. Sie mussten seine Spur verloren haben. Kaum zu glauben. Er schloss die Augen, zwang sich stillzuhalten, unterdrückte den alles beherrschenden Fluchtimpuls. Langsam gewann sein Denken an Kontur. Zum Teufel, das hier hatte er nicht verdient. Nicht, nachdem er so lange durchgehalten hatte.
Er dachte an die Zeit, als er allein im Dorf geblieben und Präräwa ihm die Gifte des Urwalds gezeigt hatte. Es lag mehr als ein halbes Jahr zurück, aber es erschien ihm wie ein anderes Leben. Damals hatte er sich wie ein Jäger gefühlt, wie ein Herrscher über Leben und Tod. Abends saß er allein in seiner Hütte und betrachtete die Fläschchen mit ihrem tödlichen Inhalt. Er hielt sie vors Feuer, schüttelte die ölig schillernden Flüssigkeiten. Die Macht in seinen Händen erregte ihn. Ein winziger Tropfen war in der Lage, mehrere Menschen zu töten. Es reizte
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