Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
ein Motiv für die sinnlose Tat. Hansen zog den Pfeil ungerührtwieder heraus. Der Indio fiel auf die Knie, Speichel tropfte ihm aus dem Mund, er atmete stoßweise. Hansen stieß ihn mit dem Fuß ins Wasser. Die starke Strömung riss den Jungen sofort mit. Hansen sah ihm nach, verfolgte, wie der Indio abgetrieben wurde und weit entfernt in den braunen Fluten versank. Der Fluss und die Piranhas würden sein Werk vollenden. Tiliwe war für alle Zeit verschwunden, geflohen oder beim Wasserholen ertrunken. Hansen lächelte. Nicht der Jaguar oder die Anakonda, er war jetzt das gefährlichste Raubtier in diesem Dschungel.
Am Abend lag er allein in seiner Hütte, den Pfeil, an dem noch das Blut des Jungen klebte, in der Hand. Saracomano war kurz vorher bei ihm gewesen und hatte ihn nach dem Jungen gefragt. Die Indianer schöpften keinen Verdacht, sie vertrauten Hansen. Alles lief wie von ihm vorhergesehen, die Aparai vermuteten, dass Tiliwe sich aus dem Staub gemacht hatte oder im Jary ertrunken war. Niemanden bekümmerte dieser Umstand sonderlich. Es war nur ein Wayapi weniger.
Hansen drehte den Pfeil vor seinen Augen hin und her, fasziniert von der tödlichen Kraft des Giftes. Curare hatte die Lebensgeister des Jungen ausgelöscht, einfach so, in Sekundenschnelle. Hansen dachte darüber nach, dass er an diesem Pfeil lecken könnte, ohne dass ihm etwas geschah, weil das Gift in den Blutkreislauf gelangen musste, um seine verheerende Wirkung zu entfalten. Würde er sich die Zunge aber an der scharfen Spitze verletzen, wäre sein Schicksal besiegelt. Langsam führte er den Pfeil an seine Nase, schnupperte vorsichtig daran. Welches Aroma hatte der Tod? Die Spitze roch schwach, leicht bitter und faulig, bildete er sich ein. Hansen streckte die Zunge heraus, um den Tod zu schmecken, war vielleicht zwei Zentimeter von der Mischung aus Curare und Blut entfernt. Was, wenn er falsch lag mit der Wirkungsweise des Giftes? Sein Herz schlug schneller. Wollte er sich geißeln?Oder seine Todesverachtung beweisen? Hansen wusste es nicht zu sagen. Seine Hand zitterte leicht. Unbeabsichtigt berührte er mit der Pfeilspitze leicht seine Zunge. Hansen schleuderte erschrocken den Pfeil weg, schwang sich aus der Hängematte und spuckte aus. Hektisch tastete er nach seiner Wasserflasche, fand sie, nahm einen großen Schluck, gurgelte ihn wild im Mund herum und spie erneut auf den Hüttenboden. Mit der Hand versuchte er, die Zungenspitze sauber zu schrubben. Sein Herz raste. War das nur die Aufregung, die ihm die Luft abzuschnüren drohte? Er schwitzte, wartete. Wenn das Gift wirken würde, wäre er jetzt tot. Erschöpft sank er in die Hängematte zurück. Verdammt noch mal, was war los mit ihm?
Eine Woche nachdem Hansen den Jungen ermordet hatte, war Schulz-Kampfhenkel wieder aufgetaucht. Rund zwei Monate waren seit seiner Abreise vergangen, schätzte Hansen. Er war im Lager, als Schulz-Kampfhenkel sich plötzlich vor ihm aufbaute, als hätte er sich aus dem Nichts vor seinen Augen materialisiert. Erst als der Expeditionsleiter ihn ansprach, bezweifelte Hansen, dass er noch unter dem betäubenden Einfluss von Präräwas Pulver stand. Der Schock hätte nicht größer sein können. Fassungslos glotzte Hansen den Mann an, ohne den er niemals im Dschungel gelandet wäre. War dieser ausgezehrte Kerl wirklich Otto Schulz-Kampfhenkel, der Möchtegern-Entdecker? Warum hatte er Kahle und Krause nicht bei sich? Hansen strich sich fahrig die schulterlangen Haare aus dem Gesicht. Schulz-Kampfhenkel schüttelte sacht den Kopf.
»Mein Gott, Heinrich«, sagte er. »Heute ist Heiligabend. Frohe Weihnachten.«
Das war typisch Otto. Nachdem sich diese Erkenntnis in Hansens Bewusstsein festgesetzt hatte, erzählte Schulz-Kampfhenkel ihm ausführlich die Geschichte seiner Reise. Hansenhörte wie betäubt zu, unfähig, einen Kommentar abzugeben. Aber Schulz-Kampfhenkel sprach ohnehin völlig in sich versunken, als verlese er ein Protokoll, das ihn selbst nicht betraf.
Nach der Abreise waren Kahles Bauchschmerzen mit jedem Tag schlimmer geworden, so dass sie häufig pausieren mussten. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde der Pilot es nicht schaffen. An die Weiterreise war nicht zu denken, der Tross kampierte am Ufer des Jary. Kahle musste operiert werden, und zwar so bald wie möglich. Wider Erwarten beruhigte sich der entzündete Blinddarm, und sie konnten weiterfahren. Gerade noch rechtzeitig erreichten sie Arumanduba, wo Kahle sofort unters Messer kam.
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