Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
gerechnet. Hansens Sinne waren hochsensibel, seine Muskeln und Sehnen trainiert vom täglichen Gebrauch. Er reagierte instinktiv, als hätte der Junge einen verborgenen Mechanismus ausgelöst, wirbelte herum und warf sich auf den flüchtenden Indianer. Beide stürzten zu Boden, Hansen hörte einen dumpfen Aufprall. Sofort war er auf allen vieren, beugte sich über sein Opfer. Der Junge war mit dem Kopf auf die Kante einer Baumwurzel geschlagen. Er stöhnte leise, Blut sickerte aus seinem Hinterkopf. Hansen fluchte und musterte die irgendwie verdrehte Gestalt des jungen Indios. Es war, als schaute er in seine eigene Vergangenheit. Auch Müller hatte so dagelegen, reglos, von einem Moment auf den anderen. Auch das hatte Hansen nicht gewollt. Aber es war geschehen, und er hatte die Situation bewältigt, irgendwie. Es schauderte ihn, wenn er daran zurückdachte. Nicht ohne Grund war er ans andere Ende der Welt geflohen. Er hatte gehofft, seine Dämonen mit Müllers totem Körper beerdigen zu können. Ein Irrglaube. Die Toten fanden ihre Mittel und Wege, wenn es darum ging, ihr Recht einzufordern.
Der Deutsche kniete sich hin, überlegte. Wie kam er möglichst ungeschoren aus dieser Sache raus? Wenn er den Jungen ins Dorf brachte und dieser den Vorfall erzählte, würde es Komplikationen geben, so viel war sicher. Hansen hatte sich auf ein Kind gestürzt, wenn auch impulsiv. Schulz-Kampfhenkel würde toben. Und das war noch das Geringste, wasihm blühte. Vielleicht hielten sie Gericht über ihn. Weiß der Teufel, welche Strafe darauf stand, ein Kind zu verletzen. Verdammt! Er musste hier und jetzt handeln. Sofort.
Zwei Meter entfernt lagen sein Bogen und seine vergifteten Pfeile. Hansen hatte sie in dem Tumult fallen lassen. Er dachte nach. So konnte es gehen. Hansen stand auf, nahm einen Pfeil und ging zurück zu dem Jungen, setzte sich rittlings auf ihn. Der Indio war bewusstlos. Hansen drehte den Kopf des Indianers so, dass die Wunde am Hinterkopf zu sehen war. Er nahm den Pfeil und führte die Pfeilspitze vorsichtig in die Wunde. So würde das Curare seine tödliche Wirkung entfalten, ohne dass eine Einstichstelle zu sehen war. Für diejenigen, die den Jungen später fanden, war der Kerl gestolpert und an seiner Kopfverletzung gestorben. Er hatte eben nicht aufgepasst. So ein Pech.
Hansen blieb auf der Brust des Indios hocken, um sicherzugehen, dass sein Plan funktionierte. Nach einer Minute veränderte sich der Atem des Jungen. Nichts konnte ihn jetzt mehr retten. Plötzlich wurde Hansen nach hinten gerissen und auf den Waldboden geschleudert. Er schrie erschrocken auf. Überall um ihn herum standen Indianer, Wayapi. Sie mussten mit dem Jungen unterwegs gewesen sein, und er war vorausgelaufen. Hansen krabbelte auf dem Rücken weg von ihnen, schockiert von der Begegnung. Zwei Hände griffen von jeder Seite unter seine Achseln und zogen ihn mühelos vom Boden hoch. Die Indios brüllten ihn an. Er begriff kein Wort und gleichzeitig alles, was sie sagten. Drei von ihnen beugten sich über den toten Jungen. Einer legte sein Ohr an das Herz des Kindes. Hansen sondierte hektisch die Lage. Er zählte sechs Mann. Nur einer hielt ihn fest. Die anderen schrien immer nervöser, gruppierten sich um die Leiche. Wenn er nicht sofort handelte, war es zu spät. Sie hatten Waffen dabei, Speere, Äxte und Bogen, und sie würden ihn hieran Ort und Stelle töten. Sie hatten ihn auf dem Jungen sitzen sehen, einer von ihnen hielt den vergifteten Pfeil in der Hand, schnupperte daran wie Hansen in seiner Hütte. Er würde das Curare riechen.
Der Indio, dessen Hand Hansens Arm eisern umklammerte, hatte eines der von Schulz-Kampfhenkel verschenkten Messer umgebunden. Hansen schlug ihm in einer flüssigen Bewegung mit der rechten Faust vor den Kehlkopf, zog das Messer aus der Scheide und stieß es ihm in die Brust. Ohne die Reaktion der anderen abzuwarten, drehte er sich um und lief los. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, Dornen zerkratzten seine Arme, seinen nackten Oberkörper. Er lief weiter, stolperte über Wurzeln, fing sich wieder und lief weiter. Immer weiter. Und weiter. Hansen drehte sich nicht um. Er keuchte, sein Herz stampfte. Dabei war er körperlich in der Form seines Lebens. Das musste die Angst sein. Bloß nicht umdrehen. Laufen. Er konnte nicht mehr, blieb stehen, lauschte. Außer dem Rauschen und Stampfen in seinem Ohr war nichts zu hören. Als würde in seinem Inneren ein Schiffsmotor arbeiten. Rotz tropfte aus seiner Nase,
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