Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Weinbergs Festnahme ging. Wusste er den Grund, hatte er einen Anhaltspunkt dafür, wie sie mit dem Arzt umspringen würden. Ob seine Familie ihn lebend wiedersehen würde. Krauss mochte nicht daran denken.
»Gibt es irgendetwas, das Sie mir verschwiegen haben?«, fragte er Weinbergs Frau. »Es ist wichtig.«
Sie schaute ihn verständnislos an, schüttelte den Kopf. Verdammt. Die Zeit arbeitete gegen sie. Falls die Gestapo Weinberg in einen ihrer Folterkeller schleppte, konnte alles passieren. Selbst wenn der Arzt es überlebte, war er unter Umständen hinterher nicht mehr derselbe. Krauss fiel nur eine Möglichkeit ein. Straubinger. Vor einer Woche war er zum ersten Mal seit der Begegnung am Krankenbett wieder bei den Weinbergs aufgetaucht. Der Arzt hatte ihm erzählt, dass Straubinger regelmäßig anrief, angeblich über eine abhörsichere Leitung, um sich über den Gesundheitszustand seines Patienten zu erkundigen. Doch der »Sohn Odins« vermied es, die Praxis persönlich aufzusuchen. Er wolle, erklärte er Krauss bei seinem Besuch, die Gefahr einer Entdeckung so gering wie möglich halten. Krauss hoffte, mehr zu erfahren über die Motive seines alten Kameraden, aber Straubinger gefiel sich in der Rolle des geheimnisvollen Retters. Noch ein wenig Geduld, und alles würde sich klären, sagte er, Krauss habe aber keinen Grund, irgendetwas zu befürchten. Er sei auf seiner Seite, erklärteStraubinger, ein Abtrünniger, der den Wahnsinn durchschaue und seine Konsequenzen daraus ziehe. Krauss traute ihm nach wie vor nicht über den Weg, aber was blieb ihm übrig? Zumal das Schicksal der Weinbergs von Straubingers Gnade abhing. Krauss beugte sich über die Frau des Arztes, strich ihr tröstend über die Schulter.
»Haben Sie Straubingers Telefonnummer?«, fragte er. Wieder schüttelte sie stumm den Kopf. In ihren Augen lag nackte Verzweiflung. Hannah rannte ohne ein Wort davon. Krauss packte die Wut. Er wollte helfen, wusste aber nicht, wie. Hannah kehrte atemlos zurück in die Küche.
»Ich habe eine Nummer, aber ich weiß nicht von wem. Papa hat sie mir gegeben und gesagt, da solle ich anrufen, wenn ihm und Mama etwas passieren würde.« Sie reichte Krauss einen Zettel, auf dem eine Telefonnummer notiert war, aber kein Name. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Straubingers Nummer handelte? Hoch, dachte Krauss. Aber vielleicht war es auch ein unbekannter Joker, den Weinberg erst im letzten Moment auszuspielen gedachte.
»Ich rufe an«, sagte Weinbergs Frau. Sie streckte die Hand nach dem Zettel aus. Jetzt schüttelte Krauss den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Hannah ruft an.«
Wenn Weinberg seiner Tochter die Nummer gegeben hatte, existierte eine Vereinbarung. Derjenige, der am anderen Ende den Hörer abhob, würde sofort handeln, wenn er Hannahs Stimme hörte. Das Mädchen sah ihn ernst an.
»Schaffst du das?« Sie nickte. Er wandte sich an die Mutter des Kindes.
»Sind Sie einverstanden?« Inge Weinberg zögerte, starrte auf ihre Hände, die ein zerknülltes Taschentuch umklammerten, als sei darin irgendeine tiefere Weisheit verborgen. Dann nickte sie.
Krauss bläute Hannah ein, sie dürfe nur sagen, dass Papavon Männern abgeholt worden sei und sie Angst habe. Nichts weiter. Die Person am anderen Ende der Leitung sollte den Ernst der Lage begreifen. Hannah sagte, sie hätte verstanden. Krauss wählte die Nummer und gab dem Mädchen den Hörer, als er ein Freizeichen vernahm. Weinbergs Tochter presste sich den für sie viel zu großen Hörer mit beiden Händen ans Ohr. Sie wartete, biss sich dabei nervös auf die Lippen. Das dauerte zu lange. Krauss war kurz davor, diese Hoffnung fahrenzulassen. Dann flackerten Hannahs Augenlider.
»Onkel Theo?«, fragte sie. Pause. O Gott, dachte Krauss. »Die schwarze Polizei hat Papa abgeholt. Ich habe schreckliche Angst.« Hannah legte auf. Sie blickte Krauss fragend an. Er lächelte aufmunternd.
»Das hast du gut gemacht«, sagte er. Wie gut, werden wir sehen, fügte er im Stillen hinzu. »Komm her.« Er schloss das Mädchen in seine Arme.
»Es war Onkel Theo«, flüsterte Hannah an seiner Schulter. »Er hat gesagt, dass er so schnell wie möglich zu uns kommt und wir nichts unternehmen sollen.«
Krauss war erleichtert. Sie hatten Glück gehabt. Straubinger war der einzige Mensch, der in dieser Situation etwas ausrichten konnte. Vorausgesetzt, er spielte kein falsches Spiel. Nach einer knappen Dreiviertelstunde betrat er die Wohnung der Weinbergs.
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