Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
durchwühlen, die Tür finden. Krauss sah es vor sich, wie sie die Kleider von den Bügeln rissen oder gleich den Schrank wegschoben und ihre Maschinenpistolen auf den freigelegten Eingang richteten. Seine Chancen waren gleich null. Er hatte keine Waffe, wollte die Weinbergs in nichts hineinziehen. Jetzt bereute er es. Was sollte er mit bloßen Händen gegen einen Gestapo-Trupp ausrichten? Er lauschte. Jetzt hörte er Stimmen, tief, befehlend. Einen schrillen Schrei. Ein Kind,das laut aufheulte. Wenn sie es wagten, Hannah etwas anzutun …
Er riss die Tür auf, schob die Bügel weg. Draußen rumste es kräftig. Krauss öffnete den Kleiderschrank, war bereit, sich seinen Häschern zu stellen. Hauptsache, sie verschonten die Familie. Er trat in den hell erleuchteten Flur. Niemand war zu sehen. Hannah hatte ihn gehört, lief heulend aus der Küche auf ihn zu.
»Richard!« Sie klammerte sich an ihn. »Sie haben Papa mitgenommen!«
Krauss war konsterniert. Was bedeutete das? Warum sollten sie Weinberg mitnehmen? Sie waren doch wegen ihm hier. Er streichelte dem Mädchen beruhigend über die Haare. Was ging hier vor?
»Keine Sorge«, sagte er. »Ihm wird nichts passieren.«
»Wo bringen sie ihn hin?«, schluchzte Hannah.
»Das werden wir herausfinden. Und dann holen wir ihn zurück.«
»Versprichst du mir das?«
»So wahr ich hier stehe. Deinem Vater geschieht nichts.«
Sie hob den Kopf, sah ihn mit flehendem Blick an.
»Ich habe schreckliche Angst«, sagte sie leise.
Ich auch, dachte Krauss. Aber ich lasse nicht zu, dass sie mich beherrscht. Er spürte, wie sich etwas in ihm verhärtete, etwas, das in der Zeit mit den Weinbergs nachgiebiger geworden war.
»Wo ist deine Mutter?«, fragte er Hannah.
»In der Küche«, sagte sie. Krauss nahm sie an der Hand und ging mit ihr in die geräumige Wohnküche, in der er seit zwei Wochen jeden Abend gegessen und geredet hatte. Nicht über sich; nach dem ersten, gescheiterten Versuch waren sie auf andere Themen ausgewichen. Das Miteinander, die Gespräche bedeuteten ihm viel, es war, als habe die Welt draußen anMacht über ihn verloren, als hätten ihn die Schüsse auf der Badeinsel in ein Paralleluniversum befördert. Als er die Küche betrat, holte ihn die Realität wieder ein. Inge Weinberg saß in sich zusammengesunken auf einem Stuhl, die Hände kraftlos im Schoß, die Augen leer. Sie weinte. Hannah riss sich von Krauss los und rannte zu ihrer Mutter, schmiss sich in ihre Arme. Weinbergs Frau blickte ihn über Hannahs Schultern hinweg an. In ihrer Stimme schwang Entsetzen mit.
»Sie haben Samuel mitgenommen, mitten in der Nacht, ohne Vorwarnung, ohne Grund. Den würde ich früh genug erfahren, haben sie gesagt.« Sie strich Hannah über den Kopf. »Samuel ist vollkommen ruhig geblieben. Er hat sich angezogen, während sie in den Kommoden und im Sekretär herumgewühlt haben. ›Warum tun Sie das?‹, habe ich gefragt. ›Halten Sie den Mund‹, hat einer geantwortet. Sonst müsste ich auch mitkommen. Dann sind sie mit Samuel fortgegangen. Er hat noch zu mir gesagt, dass er bald wieder da ist und ich mir keine Sorgen machen soll. Da hat einer von den Kerlen laut gelacht.«
Krauss kannte diese Typen, ihr Auftreten, ihre Selbstherrlichkeit, ihre Brutalität. Er merkte, wie die Wut in Wellen über ihn hinwegrollte.
»Gestapo?«, fragte er.
Sie nickte. Niemand sonst schleppte die Menschen mitten in der Nacht aus ihrer Wohnung. Warum hatten sie sich Weinberg geschnappt? Offensichtlich ging es nicht um seinen heimlichen Gast, dachte Krauss. Wenn sie den Verdacht hegten, dass die Weinbergs einen Spion versteckten, hätten sie die Wohnung auseinandergenommen. Dann läge er längst in Ketten. Es war etwas anderes, nur was? Willkür? Die Gestapo brauchte keine triftigen Gründe. Er wusste das am besten. Weinberg war Jude, das reichte. Trotz seiner Sondererlaubnis als Arzt würde es Menschen geben, denen er ein Dorn im Auge war. Die seine Praxis übernehmen wollten. Die ihn Gottweiß wohin wünschten. Vielleicht hatte ihn auch jemand aus anderen Motiven angezeigt. Das Denunzianten-System funktionierte schon damals, als Krauss noch zur Gestapo gehörte, hervorragend. Jeder überwachte jeden. Wer den anderen zuerst anzeigte, verschaffte sich einen Vorteil. So streckte die Partei ihre Fühler bis in die kleinste Zelle aus. Niemand durfte sich sicher fühlen, der Feind saß unter Umständen mit am Tisch. Perfide und perfekt.
Krauss musste unbedingt ermitteln, worum es bei
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