Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Straubinger hatte einen Schlüssel und benutzte stets die Hintertür, um ins Haus zu gelangen. Es war gefährlich genug für ihn, aus der Distanz jüdische Verwandte zu unterstützen; keinesfalls aber durfte er in den Ruf geraten, ihnen zu nahe zu stehen. Es sei denn, dachte Krauss, Straubingers Vorgehen war Teil eines ausgeklügelten Plans. Das würde sich bald herausstellen. Zumindest dem äußeren Erscheinungsbild nach zu urteilen, war Straubinger von der Nachricht ebenfalls überrascht worden. Seine sonst ordentlich gescheitelten Haare standen in alle Richtungen ab, das Gesicht war aschgrau undvom Schlaf zerknittert. Er ging sofort zu seiner Tante, umarmte sie.
»Ich werde tun, was ich kann, um Samuel zu helfen«, sagte er. »Aber erst mal musst du mir genau erzählen, was passiert ist.«
Inge Weinberg berichtete ihrem Neffen vom Auftauchen der Gestapo und der Festnahme ihres Mannes. Straubinger hörte aufmerksam zu.
»Versuche dich bitte zu erinnern: Hat dir einer der Kerle seinen Namen genannt oder den Verdacht formuliert, unter dem Samuel steht?«
»Sie haben mich nur ausgelacht«, antwortete Weinbergs Frau. Straubinger blickte Krauss an.
»Nicht, dass mich das wundern würde. Ich muss unbedingt herausbekommen, wo sie ihn hingebracht haben. Vermutlich in die Zentrale.«
»Können wir ihn da rausholen?«, fragte Krauss. Straubinger sah ihn ungläubig an.
»Wir sprechen hier von der Prinz-Albrecht-Straße, nicht von Auerbachs Keller.« Straubinger spielte auf eine halsbrecherische Aktion von Krauss an, die erst ein paar Monate zurücklag. Er war nach seiner Ankunft in Berlin auf der Suche nach Informationen über seinen Bruder Edgar in eines der über das Stadtgebiet verteilten sicheren Häuser eingedrungen, in denen die »Söhne Odins« ihre Gefangenen folterten. »Auerbachs Keller« verdankte seinen doppeldeutigen Namen dem Kommunisten Hans Auerbach, dem ersten Opfer in diesen Räumen. Krauss hatte nach seinem Eindringen ein Blutbad unter den Folterknechten angerichtet. Natürlich war die stark bewachte Gestapo-Zentrale an der Prinz-Albrecht-Straße ein anderes Kaliber. Aber Krauss hatte bei seiner Frage auch keinen bewaffneten Überfall im Sinn gehabt. Er ignorierte Straubingers Bemerkung.
»Was hast du vor?«
»Das Einzige, was mir einfällt, ist, Samuel als wichtigen Informanten über Widerständler auszugeben. So komme ich vielleicht an ihn ran. Aber leicht wird das nicht.«
Straubinger hatte recht. So könnte es klappen. Doch er brachte sich selbst damit in höchste Gefahr. Auch ein »Sohn Odins« war nicht davor gefeit, in die Mühlen des eigenen Vereins zu geraten.
»Du musst dich beeilen«, sagte Krauss. Je nachdem, wer das Verhör führte, war Weinbergs Leben in größter Gefahr.
»Ich weiß«, entgegnete Straubinger. »Aber bitte: Unternehmt nichts. Wartet, bis ich mich melde. Ich verspreche, dass ich tue, was ich kann.« Nur zwanzig Minuten hatte Straubingers Besuch gedauert, dann war er schon wieder verschwunden. Krauss wünschte sich, dem dubiosen Nazi glauben zu können.
In den folgenden Stunden versuchte er, sich und Hannah von den Ereignissen der Nacht abzulenken. Er spielte mit ihr in seinem Versteck eine endlose Partie Mau-Mau, ohne sich konzentrieren zu können. Weinbergs Frau hatte derweil an der Haustür einen Zettel befestigt mit der Nachricht, dass die Praxis an diesem Tag wegen Krankheit geschlossen sei. Trotzdem musste sie am Telefon viele Anrufer vertrösten. Sie nahm sich kaum Zeit für Erklärungen, wollte die Leitung nicht blockieren. Denn bei jedem Klingeln erwartete sie, Straubingers Stimme zu hören. So verstrich der Vormittag in schier endlosem, hirnzermarterndem Warten. Auch acht Stunden nach Weinbergs Verschwinden gab es keine Nachricht über seinen Verbleib. Erst am Nachmittag schrillte die Türklingel. Hannah sprang auf, aber Krauss hielt sie fest. Niemand durfte sie aus dem Schrank steigen sehen. Er legte den Finger an die Lippen. Selbst in dem durch den Schrank einigermaßen schallisolierten Zimmer hörten beide, wie Weinbergs Frau einenspitzen Schrei ausstieß. In Krauss krampfte sich etwas zusammen. Hatte man der Arztgattin eine furchtbare Nachricht überbracht?
Hannah bibberte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Krauss ließ sie los. Das Mädchen rannte aus dem Zimmer durch den Schrank in den Flur. Er wartete. Sein Körper fühlte sich kalt an, seine Sinne erschienen ihm seltsam dumpf. Etwas geschah mit ihm. Krauss richtete sich auf, wappnete sich.
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