Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Armensiedlungen. Wenn er einmal untertauchen müsste, wäre das der ideale Ort, dachte er. Niemand würde ihn dort aufstöbern, wo die Straßen keine Namen hatten und die baufälligen Hütten sich ähnelten wie eine Leprabeule der anderen. Noch etwas anderes entdeckte er in dieser Zeit, etwas, das nicht mit seiner Umgebung, sondern ausschließlich mit ihm selbst zu tun hatte. Je weiter er sich vom Dschungel entfernte, je länger die unselige Begegnung mit den Wayapi zurücklag, desto mehr fehlte ihm der süße Moment des Triumphs. Die unendliche Macht, die er besessen hatte. Der Rausch des Tötens. Er versuchte es auf die biochemischen Prozesse seines Körpers zu reduzieren, auf die Unmengen von Adrenalin, die der menschliche Organismus in solchen Situationen ausschüttete. Doch das war es nicht allein. Da war noch etwas anderes, Dunkles, Namenloses in ihm. Und es hungerte nach mehr.
Selbst auf dem Schiff gingen sich Hansen und Schulz-Kampfhenkel aus dem Weg, besprachen nur das Nötigste. Zwischen ihnen entwickelte sich keine offene Feindschaft, nur ein gewisser Überdruss am jeweils anderen, ein Bekenntnis zur Unerschütterlichkeit des eigenen Standpunkts. Allerdings erinnerte Hansen seinen alten Freund an dessen Versprechen, bei ihrer Rückkehr seinen Namen so populär zu machen, dass sich ihm Türen öffneten, die bisher für ihn verschlossen waren.
»Um von der oberen Gesellschaft akzeptiert zu werden, musst du dir erst mal die Haare schneiden«, hatte Schulz-Kampfhenkel geantwortet.
Aber Hansen dachte nicht daran. Die langen Haare gefielen ihm, und sie erinnerten ihn an die Sonderstellung, die erim Dschungel genossen hatte. Er war der weiße Indianer, ein Jäger, an den sich die Aparai noch lange erinnern würden. Einer, dem man sich nicht entgegenstellte. Seine Haare waren sein Erkennungszeichen, wie der Federbusch auf dem Helm eines römischen Feldherrn, und sie sollten allen eine Warnung sein. Ein Matrose des Schiffes, auf dem sie den Atlantik überquerten, hatte das nicht begriffen. Als Hansen eines Nachts am Heck des Dampfers lehnte und hinaussah in die Dunkelheit, gesellte sich der junge Mann zu ihm. Er war attraktiv und hatte die gierigen Blicke bemerkt, mit denen der Deutsche seinen Körper betrachtete. Ein kleines amouröses Abenteuer kam für ihn durchaus in Frage, zumal wenn dabei vielleicht ein Taschengeld heraussprang. Hansen stützte sich mit den Armen auf der Reling ab, als der Matrose seine Hand berührte und ihn anlächelte. Erst stutzte Hansen, dann schaute er sich verstohlen um und lächelte, als er sich unbeobachtet wähnte, zurück. Zwei Minuten später schmiegten sie ihre Körper aneinander, tief unter ihnen wummerte der Schiffsmotor. Hansen spürte wieder das Adrenalin, das sein Herz schneller schlagen ließ. Die Geilheit, die in ihm schlummerte. Die Gier nach Verbotenem. Und das andere, Namenlose. Endlich. Beiläufig griff er dem Matrosen mit der Rechten an den Hosenbund, packte ihn mit der Linken unter der Achsel und schleuderte ihn mit einer einzigen, unangestrengt wirkenden Bewegung über die Reling, wie einen Sack voller Unrat. Der Mann gab keinen Laut von sich, so überraschend war die Aktion. Hansen blickte dem Körper hinterher, der nach wenigen Metern von der Dunkelheit verschluckt wurde. Nicht einmal den Aufprall aufs Wasser hörte er, so hoch war die Reling und so laut die Schiffsschraube. Hansen drehte sich um, sein Herz klopfte. Niemand hatte ihn gesehen. Niemand hielt ihn auf. Er konnte töten, wen und wie es ihm beliebte.
Wieder in Deutschland, fiel Hansen in ein tiefes Loch. Die Türen, von denen Schulz-Kampfhenkel gesprochen hatte, öffneten sich nur für diesen. Für Hansen blieben sie verschlossen. Der Expeditionsleiter beschwor Hansen, der ihn regelmäßig mit Geldsorgen behelligte, sich zu gedulden, bis er Buch und Film fertiggestellt habe. Dann werde der Ruhm der Jary-Expedition auf ihn abfärben. Aber Hansen dauerte das zu lange. Sie waren nun, im Dezember 1937, ein halbes Jahr zurück in der Heimat, und nichts Nennenswertes war passiert. Er drohte Schulz-Kampfhenkel an, die Expedition mit erlogenen Enthüllungen in Misskredit zu bringen, wenn der nicht irgendetwas für ihn auf die Beine stellte. Sein vermögender Schulfreund gab nach und überwies ihm monatlich eine kleine Summe, die für die alltäglichen Bedürfnisse ausreichte. Hansen genoss diesen Triumph, aber bloßes Überleben war ihm zu wenig. Ein Mann mit seinen Talenten hatte mehr verdient.
Umso
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