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Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Uhrzei
    ger erkennen können, aber aus irgendeinem Grund war ich absolut davon überzeugt, daß es genau in dieser Sekunde sechs Uhr abends war. Und tatsächlich ertönten von irgendwoher die Schläge einer Wanduhr.
    Langsam ging ich auf den Kontraktowaja-Platz zurück. Hinter mir hörte ich die Schritte eines Mannes. Vielleicht war er das? Vielleicht hatte ich ihm eben von Angesicht zu Angesicht an der Tür des Cafés gegenübergestanden?
    Meinen Zustand konnte man nur mit einer alles abtötenden Dumpfheit vergleichen. Ich war weder verzweifelt noch erleichtert. Nur die Angst wurde bei jedem Schritt des hinter mir gehenden Mannes größer. Ich wollte mich umdrehen, hatte aber zuviel Angst davor.
    Als ich auf der beleuchteten Straßenbahnkurve angekommen war, drehte ich mich schließlich um, aber hinter mir war niemand.
    Die Angst ließ nach, aber gleichzeitig verschwanden auch alle anderen Empfindungen. Wieder bemächtigte sich meiner eine völlige Dumpfheit.
    Ich setzte mich auf eine leer gewordene Bank unter das Skoworoda-Denkmal. Saß da und dachte an gar nichts. Ich atmete einfach nur.
    Vielleicht hatte mich meine Seele gegen sechs Uhr verlassen, hatte mich ohne Gefühle und Gedanken zurückgelassen. Anscheinend hatte ihr mein Plan nicht gefallen. Die Seele lebt im Körper des Menschen und liebt es nicht, ihren Wohnort zu verlieren.
    Ein komischer Gedanke schlich sich in mein vereistes Gehirn. Wenn die Seele in meinem Körper wohnte und zu meinem Körper eine bestimmte Adresse gehörte, dann hat also meine Seele zwei Wohnsitze, was nach allen bei uns bis heute gültigen sowjetischen Gesetzen verboten ist.
    Da lächelte ich sogar.
    Und dachte an die Einsamkeit des Skoworoda.
    Manche Leute werden geboren, um selbst nach dem Tod noch einsam zu bleiben.
    Es war zwanzig Minuten nach sechs.
    Die ersten zwanzig Minuten meines außerplanmäßigen Lebens waren vergangen.
    Nachdem ich noch etwa eine halbe Stunde dagesessen hatte, lief ich zu Fuß zum Kreschtschatik, fand eine angetrunkene junge Prostituierte, versprach ihr, sie am Morgen zu bezahlen, und nahm sie mit nach Hause.

10
    Freitag. In der Nacht hatte ich abwechselnd Alpträume und plötzliche Visionen von idyllischen Bildern, und je nachdem, was gerade überwog, umarmte ich im Schlaf das Mädchen, dessen Namen ich nur einmal gehört und sofort wieder vergessen hatte, oder rollte mich an den Rand des Bettes weit weg von ihr.
    Am Morgen wachte ich mit Kopfschmerzen auf. Ich stand auf und ließ meinen fest schlafenden Gast allein. In der Küche trank ich einen Nescafé. Einige Male sah ich ins Schlafzimmer und wunderte mich über ihren Tiefschlaf. Schließlich spähte ich noch einmal hinein, um meinen Gast etwas aufmerksamer zu betrachten. Wir hatten uns ja in der Dämmerung kennengelernt, und wenn man bedenkt, in welchem Zustand ich mich am vergangenen Abend befunden hatte, dann konnte man nur den Mut dieses Mädchens bewundern. Mir wurde richtig bange um sie. Wenn sie nun fünf Minuten vor unserer Bekanntschaft irgendein vergewaltigender Sadist mit zu sich nach Hause genommen hätte?
    Meine Gedanken führten logisch zu dem Resultat, daß ich ein gutes Werk vollbracht und sie wahrscheinlich vor Schlägen oder Schlimmerem gerettet hatte. Aber dann fiel mir ein, daß ich ihr ja versprochen hatte, sie am Morgen zu bezahlen, und ich hatte noch nicht einmal mitgekriegt, was für eine Summe ich ihr schuldete …
    Mir wurde ganz mulmig, und nun freute ich mich sogar über ihren tiefen Schlaf. Trotzdem mußte was getan werden. Vielleicht sollte ich irgendwo Geld borgen, damit ich sie bezahlen konnte. Aber allein der Gedanke, daß ich Geld auftreiben mußte, um eine Prostituierte zu bezahlen, ließ in mir Ekel hochsteigen, und ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Ich hatte auch allen Grund, das Gesicht zu verziehen.
    »Hallo!« hörte ich eine süße, leise Stimme aus dem Zimmer. »Hallo, wo bist du?«
    Ich tauchte in der Tür auf und fragte: »Kaffee?«
    Sie streckte sich. Auf ihrem sommersprossigen Gesicht spielte ein Lächeln. Und sie nickte wie ein kleines Kind. Sie setzte sich auf, schob mit der Hand ein Kissen hinter den Rücken und machte es sich so im Bett bequem, halb liegend, halb sitzend.
    »Ich habe aber nur Nescafé«, konnte ich gerade noch sagen, bevor ich in der Küche verschwand.
    Das Wasser kochte bald, und ich goß ihr einen Kaffee auf.
    Sie war schön, ein bißchen zu schön für eine Prostituierte. Und zu jung. Die kastanienbraunen Haare, die ein

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