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Ein Freund des Verblichenen

Ein Freund des Verblichenen

Titel: Ein Freund des Verblichenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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vollen Tag meines Lebens sinnvoll auszufüllen. Im Nebel herumzuirren hatte ich keine Lust, obwohl Nebel ein sehr spezielles Morgenphänomen ist.
    In der Küche stellte ich den Teekessel auf und setzte mich an den Tisch.
    ›So geht das Leben eben zu Ende‹, dachte ich und spürte an meiner inneren Intonation so etwas wie ein gekünsteltes Alter. Als würde ich mit jedem Tag, der mich näher an den auserwählten Donnerstag brachte, stärker von einer unheilbaren Krankheit befallen.
    Bei so einem Nebel vor dem Fenster Tee zu trinken, das hatte Ähnlichkeit mit einer teuren skandinavischen Klinik für unheilbar Kranke oder ließ
    Assoziationen mit Bergman aufkommen.
    Der Schnee wird in diesem Jahr ohne mich fallen.
    Aber vielleicht wird es ausgerechnet in diesem Jahr gar nicht schneien, bloß daß ich das nicht mehr erlebe?
    Kein großer Verlust im übrigen. Die Stadt spart ein bißchen von dem, was sie normalerweise für die Schneebeseitigung ausgeben muß.
    Meine Gedanken kreisten um geringfügige Dinge, nichts Erhabenes, nichts wirklich Philosophisches. Wie ich selber immer ein unbedeutender, nie tief denkender Mensch gewesen war. Und jetzt blieb wirklich das einzige, was mich bedeutender machen konnte, wenn auch nicht in meinen Augen, aber in denen anderer, ein gewaltsamer Tod. Das klingt dümmlich. Offensichtlich rufen ein guter Schlaf und ein friedliches Erwachen mit der anschließenden Betrachtung des jungfräulich reinen Nebels Dummheit oder zumindest sehr banale Gedanken hervor.
    Es wäre nicht schlecht, am letzten Tag einigen längst vergessenen Bekannten ein paar Briefe zu schreiben. Irgend etwas über Zukunftspläne. Das lenkt von den Gedanken an den Donnerstag ab und erhöht die Tragik des Freitags.
    Ohne meinen Tee auszutrinken, lief ich ins Zimmer, um Papier und Schreibzeug zu holen.
    »Liebe Tanja«, schrieb ich einer jungen, geschiedenen Frau in Moskau, die wir vor einiger Zeit im Urlaub auf der Krim kennengelernt hatten, wonach wir eine Zeitlang einen herzlichen Briefwechsel hatten. »Entschuldige, daß ich Dir so lange nicht geschrieben habe. Das Leben ist in den letzten beiden Jahren durcheinandergeraten und nun ganz und gar kaputt. Jetzt habe ich weder eine Arbeit noch eine Familie. Ich fange also bei Null an, und alle Wege stehen mir wieder offen. Für junge Leute gibt es immer einen Weg. In ein paar Tagen werde ich anfangen, über die Zukunft nachzudenken, zunächst trauere ich noch der Vergangenheit nach. Aber ich trauere eigentlich nicht aufrichtig, eher aufgrund der tief in den Genen verwurzelten russisch-orthodoxen Traditionen. Ich trauere nicht einmal, sondern ich gräme mich. Das Wort paßt besser. Wenn ich mich ausgegrämt, ausgetrauert und ausgeweint habe, gemäß dem Brauch also nach neun Tagen und dann nach vierzig Tagen (oder Stunden), denke ich, werde ich nach Moskau aufbrechen. Ich wäre sehr froh, Dich zu sehen und mich mit Dir an die Vergangenheit und die alten Freunde zu erinnern. Wenn Du Zeit hast und Du auch Lust hast, schreibe mir. Die Adresse steht auf dem Briefumschlag. Ich umarme Dich.«
    Der Brief schrieb sich erstaunlich leicht, in einem Zuge. Ich hätte noch zehn solcher Briefe hinkritzeln sollen, solange es noch so neblig war und das Schreiben mir so leicht fiel, aber ich hörte rechtzeitig auf.
    Das Telefon klingelte. Ich mußte ins Zimmer zurück.
    Meine Frau rief an. Sie bereitete mich in trockenem Ton darauf vor, daß sie mit ihrem ›Kollegen‹ mit dem Auto vorbeikäme, um ihre Sachen abzuholen.
    »Ist das Auto des Kollegen rot?« fragte ich sie.
    Sie legte den Hörer auf.
    Da ich keine Lust hatte, an meinem letzten Tag meiner Frau und ihrem ›Kollegen‹ zu begegnen, zog ich mich schnell an und verließ die Wohnung.
    Der Nebel verdrängte die Luft völlig. Die Autos schlichen langsam und vorsichtig vorbei und ertasteten den Weg mit gelben Scheinwerfern. Die Menschen kamen auch irgendwie merkwürdig daher, sie tauchten aus dem Nichts auf und lösten sich in der Nebelwolke wieder auf. Der Mittwoch begann mystisch, als sollte aus diesem Nebel etwas anderes, eine neue Welt auftauchen, in der es allen gutgehen würde und in die alle diejenigen hinübergehen könnten, die in der alten Welt nicht heimisch geworden waren und sich nicht eingelebt hatten.
    Ich schlenderte in Richtung Zentrum. Mich überkam die Lust, einen möglichst langen Weg in diesem Nebel zurückzulegen, nach Podol, zur Bratskaja-Straße. Vielleicht war das völlig sinnlos. Aber wenn man sich an die

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