Ein ganzes halbes Jahr
etwas vor den französischen Fenstern gerichtet. Schließlich wandte sie sich wieder an mich. «Nun, sagen wir einfach, dass sein psychisches Wohlergehen genauso wichtig ist wie sein physisches Wohlergehen. Verstehen Sie?»
«Ich glaube schon. Soll ich so etwas wie einen … Krankenschwesternkittel tragen?»
«Nein. Ganz bestimmt nicht.» Sie warf einen kurzen Blick auf meine Beine. «Allerdings wäre vielleicht etwas weniger … Freizügiges angebracht.»
Ich sah an mir hinunter. Das Jackett war verrutscht, und man sah einen großen Teil meines nackten Oberschenkels. «Das … tut mir leid. Die Naht ist gerissen. Das Kostüm gehört mir eigentlich nicht.»
Aber Mrs. Traynor schien gar nicht mehr zuzuhören. «Ich werde Ihnen erklären, was zu tun ist, wenn Sie anfangen. Will ist nicht gerade sehr umgänglich zurzeit, Miss Clark. Bei dieser Arbeit geht es genauso sehr um die innere Einstellung wie um jegliche … beruflichen Fähigkeiten, die Sie haben. Also, sehen wir Sie morgen?»
«Morgen? Wollen Sie nicht … dass ich ihn vorher kennenlerne?»
«Will hat heute keinen guten Tag. Ich glaube, am besten fangen wir morgen ganz neu an.»
Ich stand auf, denn Mrs. Traynor wollte mich offensichtlich sofort zur Tür begleiten.
«Ja», sagte ich und zog Mums Jackett fester um mich. «Also. Danke. Ich komme dann morgen früh um acht Uhr.»
Mum servierte Dad Kartoffeln. Sie legte ihm zwei auf den Teller, er zog ihn aber nicht zurück und nahm sich noch eine dritte und vierte von der Servierplatte. Mum stoppte ihn, beförderte die Kartoffeln wieder auf die Platte und klopfte ihm mit dem Vorlegelöffel auf die Hand, als er einen neuen Vorstoß unternahm. Um den Tisch saßen meine Eltern, meine Schwester und Thomas, mein Großvater und Patrick, der jeden Mittwoch zum Abendessen kam.
«Daddy», sagte Mum zu Großvater, «soll dir jemand das Fleisch schneiden? Treena, würdest du Daddy das Fleisch klein schneiden?»
Treena beugte sich zu ihm hinüber und begann geschickt, auf Großvaters Teller herumzusäbeln. Auf ihrer anderen Seite hatte sie dasselbe schon für Thomas getan.
«Wie geschädigt ist dieser Mann eigentlich, Lou?»
«Viel kann mit dem nicht mehr los sein, wenn sie unsere Tochter auf ihn loslassen», stellte Bernard fest. Hinter mir lief der Fernseher, sodass Dad und Patrick das Fußballspiel sehen konnten. Ab und zu erstarrten sie, spähten um mich herum und vergaßen zu kauen, während sie einen Pass oder ein Beinahe-Tor verfolgten.
«Ich glaube, das ist eine große Chance. Sie wird in einem von den alten Herrenhäusern arbeiten. Für eine gute Familie. Sind sie vornehm, Liebes?»
In unserer Straße konnte mit ‹vornehm› jeder gemeint sein, in dessen Familie noch niemand Ärger mit der Polizei gehabt hatte.
«Ich schätze schon.»
«Hoffentlich hast du schon mal den Hofknicks geübt», sagte Dad und grinste.
«Hast du ihn schon kennengelernt?» Treena beugte sich zu Thomas, um zu verhindern, dass er mit dem Ellbogen seinen Saft vom Tisch stieß. «Den Krüppel, meine ich. Wie ist er so?»
«Ich lerne ihn morgen kennen.»
«Schon komisch, oder? Du wirst den ganzen Tag mit ihm verbringen. Neun Stunden. Du wirst mehr mit ihm zusammen sein als mit Patrick.»
«Das ist keine Kunst», sagte ich.
Patrick auf der anderen Seite des Tisches tat so, als hätte er mich nicht gehört.
«Immerhin musst du dir um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz keine Sorgen machen, was?», sagte Dad.
«Bernard!», kam es scharf von meiner Mutter.
«Ich sage doch nur, was sowieso jeder denkt. Das ist vermutlich der beste Chef, den man sich für seine Freundin wünschen kann, nicht wahr, Patrick?»
Patrick lächelte. Er wehrte gerade Mums Versuche ab, ihm eine Portion Kartoffeln aufzudrängen. Zurzeit hatte er einen kohlenhydratfreien Monat, weil er sich auf einen Marathon Anfang März vorbereitete.
«Weißt du, ich habe gedacht, dass du vielleicht Zeichensprache lernen musst. Ich meine, wenn er sich nicht verständlich machen kann, woher sollst du dann wissen, was er will?»
«Sie hat nicht gesagt, dass er nicht sprechen kann, Mum.» Allerdings konnte ich mich auch nicht daran erinnern, was genau Mrs. Traynor gesagt hatte. Ich stand noch leicht unter Schock, weil ich tatsächlich einen Job bekommen hatte.
«Vielleicht redet er mit so einem Gerät. Wie dieser Wissenschaftler. Der aus den Simpsons .»
«Scheißer», sagte Thomas.
«Nee, der nicht», sagte Dad.
«Stephen Hawking», sagte
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